DDR  Als er die Augen wieder öffnete, kam das Morgengrauen herauf. Der Zug bewegte sich endlich ruhiger, in gemächlicher Fahrt rollte er einem verhangenen Tag entgegen, dessen Trübnis jedoch nur als eine Entfärbung der Dunkelheit erschien. Vor den Waggonfenstern strebten mit Gras und Gebüsch überwachsene Böschungen auseinander, der Zug schob sich langsam auf eine Ebene hinauf; Straßen ohne Verkehr wurden sichtbar, Felder, zum Teil schon abgeerntet, Gehöfte und kleine unansehnliche Siedlungen, menschenleer und auf "Ungewisse Art bankerott wirkend, mit Parkplätzen voller Landmaschinen an den Rändern wirrer Häusergruppen, die wie Ansammlungen von Schrott und Schutt aussahen. Dann tauchten verstreut Industrieanlagen in der Landschaft auf, umgeben von Gemäuer, dessen Reste abschüssig, gleich verfaulenden Gebissen, in die Erde eingingen oder sich den dahinter liegenden Kohlehaufen anglichen. Bahnhöfe, die den Eindruck jahrelanger Vergessenheit machten, zogen blöde vorbei. Still und gleichmäßig grau dehnte sich der Himmel über dem Land; darunter kroch der Zug dahin, in jedem Moment erwartete man das völlige Verstummen der Fahrtgeräusche. Nun hielt man auch schon; langgezogenes Quietschen und dumpfe Stöße setzten sich durch die Waggonreihe fort, weit schienen sie durch das Gelände zu hallen und wurden von dem Himmel verschluckt, der nun eher ein schmutziges Weiß war. Lange, deprimierend lange und offenbar völlig grundlos schien der Zug zu stehen, - vielleicht aber währte auch dies nur Minuten; dann ging es weiter, in schnellerem Tempo jetzt, doch wieder unstet, ruckartig, als müsse gleich wieder gehalten werden; aber der Zug fuhr, daß seine Geschwindigkeit stieg, war an dem rostigen zweiten Gleis abzulesen, das neben der Strecke herlief; sichtlich war es ein schon lange nicht mehr benutztes Gleis, Unkraut und Gras standen zwischen den Schienen, und je länger C. in dieses unter ihm hinwegfliehende Gleis starrte, um so öfter dünkte ihm, daß das Gras dort unten schwarz war.   - Wolfgang Hilbig, Grünes grünes Grab. Frankfurt am Main 1993

DDR (2)  Es gab also immer wieder Äußerungen (W. warf sie durcheinander; sein Erinnerungsvermögen war schlecht), die ihm im Kern abrieten, seine Existenz, seine literarische Existenz, im Westen anzusiedeln... und doch hielten diese Äußerungen das Thema am Leben ... und sie schienen vorauszusetzen, daß er mit solchen Absichten umging, obgleich er nie darüber gesprochen hatte. - Offenbar ging es in dieser Republik nur und immer um diese Dinge... alles Reden war nur Vorwand für das einzige Thema: Ob jemand die Absicht habe, das Land zu verlassen, oder nicht. Es war dies offenbar zum Hauptkriterium dafür geworden, wie das Dasein eines Menschen zu beurteilen sei. Die Frage nach dieser Absicht - Hierbleiben oder Nicht-Hierbleiben - beherrschte das allgemeine Bewußtsein ganz und gar (und die Frage war längst zu einer Paraphrase auf Hamlets Monolog geworden), das Nachdenken über diese Frage war zum alleinigen gemeinsamen Wesenszug eines ganzen Volks geworden. Die Frage geisterte durch alle Schichten, vom Aufenthaltsraum der Toilettenfrau bis in die Volkskammer, und dieser Zustand hatte eine absurde Blüte getrieben: man empfand es als eine Provokation, wenn irgendwer diese Absicht noch niemals kundgegeben hatte. Wenn jemand seinen Willen, hierzubleiben, behauptet hatte, war er höchst verdächtig geworden ... wenn jemand überhaupt nichts zu dieser Frage zu sagen wußte/ mußten alle Mittel in Bewegung gesetzt werden, herauszubringen, wie er über diesen Punkt dachte. Die Organe, die mit der Aufklärung der Denkvorgänge in den Hirnen ihrer Bürger beschäftigt waren, schienen nur ein zentrales Problem zu kennen; Ist es wahr, daß alle diejenigen, die sich über diese Frage ausschweigen, für die allernächste Zeit ihren Grenzdurchbruch planen? Wieso schweigen sie so unerschütterlich, wenn sie diesen Plan nicht haben? Wie kann man über Dinge schweigen, die man nicht in Wirklichkeit denkt?   - (ich)
 
 

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