ltstadt Es
gab Stadtviertel, die mich besonders anzogen, ohne daß ich je ihren Namen erfahren
hätte. Ich erinnere mich, daß ich schmale Gassen hinaufging,
die durch ein Eisengeländer in der Mitte geteilt wurden; wandte ich mich um,
so sah ich Dächer, Kamine und Wolken, ganz wie vom Montmartre. Man ging am Rande
des Himmels dahin und hatte dennoch den seltsamen Eindruck, einen Tagbau zu
erforschen, so wirr schoben die schachtengen Gassen
sich ineinander. Sie gingen manchmal in Höfe über
oder in einfache Gänge, von denen links und rechts Treppen aufstiegen; darüber
baumelten Wäschestücke, und Kinder sausten auf Rollschuhen um die Ecken. Nach
ein paar Minuten schon war man in dieser Welt untergetaucht und so namenlos
wie die Ameise in ihrem Bau. - Boileau / Narcejac, Ich
bin ein anderer. Reinbek bei Hamburg 1990
Altstadt
(2) Die Calle Perecamps würde zum Ensanche hin verlängert
werden und das Fleisch der Altstadt aufschneiden, sich einen Weg bahnen durch
die hinfälligen Körper und verkalkten Skelette der elendesten Architekturen
der Stadt. Ein gigantischer Bulldozer mit dem Kopf eines Horrorinsekts würde
endgültig dafür sorgen, daß die Archäologie des Elends nur noch in Büchern existierte.
Die Alten, die Fixer, die Dealer, die armen Nutten, die Neger und die Marokkaner,
die sich, vertrieben von der mechanischen Schaufel, aus dem Staub machen mußten,
würden ihr Elend irgendwohin mitnehmen, vielleicht in die Außenbezirke, wo die
Stadt keinen Namen mehr hat und für ihre Katastrophen schon keine Verantwortung
mehr übernimmt. Eine Stadt ohne Namen wird nicht vorgezeigt, erscheint auch
nicht auf Postkarten und verdient nur das Mitleid der Titelseiten, wenn ihr
autodestruktiver Komplex die Toleranzgrenze der permissiven Gesellschaft überschreitet
und mit einer Maßlosigkeit gemordet, vergewaltigt und Selbstmord verübt wird,
die nur Verzweifelte und Verrückte kennen. Auf den Straßen alte Leute mit fast
leeren Einkaufstaschen, immer unterwegs zwischen zwei kümmerlichen Einkäufen
und zwei unvollkommenen Arten des Ver-gessens: dessen, was sie in diesem Leben
gemacht haben, und welcher Tag heute ist. Eine neue Generation krampfadergeplagter
Nutten, registriert von einem Computer der fünften Generation, ernährte sich
wie ihre Mütter von Bocadillos mit Thunfisch oder Tapas mit Calamares in einer
unbestimmbaren Soße, außerdem, als einziges Zugeständnis an die moderne Zeit,
von Würstchen mit Ketchup, sozusagen auf intravenösem Weg. Neben der monumentalen
Hure, die mit den Jahren und in der äußerlichen und innerlichen Nachtkälte verfiel,
kauerte die unbekannte kleine Nutte mit Spritze und flackernden Augen wie die
von Matrosen auf einem Meer ohne Ausweg. Ebenfalls zwei Arten von Zuhältern,
die eine altbekannt, dickhäutiger Hengst mit vorspringender Brust und knackigem
Hintern, und daneben der postmoderne Typ, kältestarr in seiner Drogensucht,
Finger und Augen feucht wie glitschige, hysterische Messer über einem Universum
halluzi-nierter Feindseligkeit. Schlecht beleuchtete Ladenbesitzer mit dem Messer
am Hals. Anständige Jugendliche ohne Arbeit, eilig unterwegs auf ihren eigenen
verbotenen Straßen, und ihre Mütter im inneren Exil in Vierteln, die sie seit
fünf oder sechs Generationen mit Geranien auf dem Balkon und dem Kontrast ehrbarer
Armut schmückten. Familien maghrebinischer Maulwürfe und schwarzer Gazellen
aus dem tiefen Afrika in verlassenen Wohnungen mit Toiletten ohne Wasserspülung,
deren Bewohner aus der aussätzigen Stadt geflohen waren. In von innen verriegelten
Wohnungen vermutlich Leichen vergessener alter Leute, denen eigene und fremde
Begierde abhanden gekommen war. Verirrte Kinder ohne Halsband beim Ballspiel
auf harten oder weichen Plätzen, sogar gegen die Türen alter Kirchen, so alt,
daß sie romanisch und halb in der Ecke versunken sind und in neuerer Zeit als
Kiosk oder Werkstatt eines Messerschmieds gedient haben. Hundescheiße und Scheißhunde,
so schäbig und verängstigt wie ihre Frauchen: reife Frauen oder Kinder, die
so aussehen, als seien sie gezwungen, den Hund auszuführen, um sich selbst auszuführen
gegen die Natur enger Straßen und sündhaft teurer Gehwege. Aber trotz allem
spiegelte sich so etwas wie die Schönheit des Elends auf dem Gesicht der Häuser
aus der Zeit kurz vor und kurz nach dem Kommunistischen Manifest, das sie nie
beachtet hatten, denn diese Stadt wurde schon alt gebaut oder wiederaufgebaut
diesseits und jenseits der mittelalterlichen Stadtmauern, die in der Mitte des
XIX. Jahrhunderts geschleift worden waren. - Manuel
Vázquez Montalbán, Schuß aus dem Hinterhalt. Reinbek bei Hamburg 1990
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