Abortmystik   Nachts, zusammengekrümmt auf Krankenhausaborten unter dem Magermilchlicht der Sparbeleuchtung im Käfig mondgekalkter Holzwände, nachts schwört man alles. Ein Tonband für Gedanken, bitte. Vorzuspielen im Sommer, wenn der Wildlederschuh zur Promenade ansetzt. Am achtunddreißigsten Tag, am neununddreißig-sten Tag ging der Vorrat zu Ende, wurde das Bewußtsein ein leerer Turm aus Stahl, Stahlwände zum Kreis gebogen, hallend von keiner Bewegung, keinen Halt bietend für die letzten wie von Mäusen gejagten Gedanken, die, Fingernägeln gleich, nach oben kratzten, rutschten, Gedanken, die nur noch Geräusche waren, allmählich ein einziges Geräusch, das schabende Geräusch eines leeren Bewußtseins, das um nichts rotiert. Siebenunddreißig Tage lang hatte der Vorrat gereicht, aber am achtunddreißigsten Tag wurde alles fadenscheinig, flatterte, riß, zerstäubte. Das Hundertzimmerhaus segelt ohne Wind ins Leere. Aber man hat noch Anker im Hinterhalt. Alle Frauen werden aufgerufen. Wie war's mit der und mit der? Das Feld bevölkert sich nicht. Nicht eine einzige Erinnerung meldet sich. Fläche, Fläche, Fläche breitet sich aus. Der Apfelbaum vor der Schule weigert sich. Die Milchkanne fällt nicht mehr polternd, sich überschlagend, sith ausgießend die Treppe hinab. Sogar Melitta am Kastanienstamm wird unsichtbar. Wo ist Dein Haar kupferrot? Die schwarze kleine Katze, die man gegen das Scheunentor warf, bis die grünen Augen eitrig trieften, weigert sich, ihre Qual zu wiederholen, und sie drängt sich doch sonst immer vor. Der Beichtstuhl weigert sich. Der Maibaum weigert sich. Sankt Maria Aegyptiaca weigert sich. Dann weigern sich sogar die Namen. Alle Worte weigern sich. Sozusagen voller Scham fragst Du bei Gott an. Und in der achtunddreißigsten Nacht und am neununddreißigsten Tag und am vierzigsten ist alles egal, Gott tut Dienst bei Dir, stellt vier Buchstaben zur Verfügung, daß Du was zum Buchstabieren hast, es sieht ja niemand, niemand hört's und Du hast etwas zum Buchstabieren, etwas, das Du in den heißen leeren Turm aus Stahl werfen kannst, um das schabende Geräusch zu vertreiben. Du wirst ruhiger, denn Gott ist doch ein angenehmer Lärm, ein tröstliches Brausen. Was hilft es, daß Du Dich genierst. Schließlich hast Du vorher alles probiert, hast alles, gar alles gerufen und angerufen, alles, gar alles, was je eine Rolle spielte, alles, gar alles hat sich geweigert, nicht eine Fratze hatte den achtunddreißigsten Tag überlebt, also bitte. Trotzdem ... - Martin Walser, Halbzeit. München 1971 (zuerst 1960)

Mystik Abort

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