willinge   Zwei linkische zwanzigjährige Zwillingsmädchen schwarzer Hautfarbe, June und Jennifer Gibbons, waren nach einigen Einbrüchen und Brandstiftungen von einem Gericht auf unbestimmte Zeit in eine Spezialklinik für kriminelle Psychopathen eingewiesen worden. Die beiden hatten sich untereinander mit Blicken und in einem für Außenstehende unverständlichen »Vogelgezwitscher« verständigt, aber mit fast niemandem gesprochen und vom elften Lebensjahr an gar nicht mehr; höchstens, daß sie manchmal widerstrebend und leise eine einsilbige Antwort gaben. Doch selbst mit ihrer Mutter verkehrten sie lieber schriftlich. Ihre Eltern hatten sie einfach für »schüchtern« gehalten und sich nie genug über das seltsame Betragen der beiden gewundert. Schüchtern waren sie in der Tat, und aus ihrer Zwillingspartnerschaft hatten sie früh eine Art Festung gegen die Welt gemacht: Sie bewegten sich völlig synchron und oft unnatürlich langsam, schienen unempfindlich und wie leblos (einem Arzt kamen sie wie Zombies vor) und schienen nur miteinander zu einem Leben zu erwachen, das für alle anderen ein Geheimnis blieb. Diese extreme Bindung aneinander hatte ihnen Schutz vor der Außenwelt gewährt, aber gleichzeitig verhindert, daß jede zu ihrer Individualität finden konnte. So hingen sie in einer intensiven und verzehrenden Haßliebe aneinander: Jede stellte sich immer wieder vor, wie sie die Schwester endlich ermordete und sich von ihr befreite, und trotzdem konnten sie ohne einander nicht sein, litten bei jeder Trennung und waren in allem einander so ähnlich, daß sie manchmal zur gleichen Zeit die gleichen Alpträume hatten. Ihre Straftaten hatten sie vor allem begangen, um einer Jungenbande zu imponieren und von ihr akzeptiert zu werden. Es war (und ist) der Fall einer extremen Zwillingssymbiose, die ins Pathologische und Asoziale umgeschlagen war. Gänzlich einzigartig aber ist ihr Fall darum, weil sie seit ihrer Pubertät geschrieben und geschrieben hatten, Geschichten und Romane voller Sex und Gewalt und Tagebücher, in denen sie ihre seelische Kalamität mit einem offenen Forschungsgeist und einer Wortgewalt ausloteten, die manche an die Schwestern Brontë denken ließ. - Dieter E. Zimmer, Experimente des Lebens. Zürich 1989

Zwillinge (2) Bei Zwillingsgeburten geschieht es selten, daß entweder die Mutter oder beide Kinder am Leben bleiben. Sind aber die Zwillinge verschiedenen Geschlechts, so ist die Rettung beider, der Mutter und der Kinder, noch seltener. Die Geburt der Mädchen geht schneller vonstatten als die der Knaben; auch altern jene schneller. Die Knaben regen sich öfter im Mutterleibe und liegen bekanntlich mehr auf der rechten, die Mädchen mehr auf der linken Seite. - (pli)

Zwillinge (3) und mein Vetter erst, das war ein Fall! als geborener Zwilling wurde er auf den Namen Vincek getauft, während man den anderen Zwilling auf den Namen Ludvicek taufte, die beiden waren gerade ein Jahr alt, da badete ihre Mutter sie in der Wanne, lief schnell für eine Minute zur Nachbarin, und als sie nach einer halben Stunde zurückkam, war ein Zwilling ertrunken, aber weil sich die Zwillinge so glichen, wußte man nicht, welcher ertrunken war, Ludvicek oder Vincek? da warf man einen Sechser, Ludvicek war der Adler und Vincek die Zahl, also war Ludvicek ertrunken, Vincek jedoch, meinem Vetter, als er erwachsen war, wollte es nicht aus dem Kopf, er hatte keine Arbeit und Zeit genug, so fragte er sich immer wieder, wer denn eigentlich ertrunken sei? ob nicht vielleicht Ludvicek am Leben und er, Vincek, ertrunken sei? und er fing mit dem Trinken an, dann ging er zum Wasser, er badete viel im Fluß, später auch in Bädern, wahrscheinlich wollte er es genau wissen, weil er sich schließlich ertränkte, um sicher zu sein, daß er nicht schon damals in der Wanne ertrunken war, das hängt auch damit zusammen, daß die Menschen zu Österreichs Zeiten Arbeit suchten, wogegen heute die Arbeit die Menschen sucht - (hra)

Zwillinge (4) »Keine Menschen«, lachte Herr Weckenbarth, »feindliche Brüder. Ein etwas sonderlicher Mechaniker, so geht das Gerücht, habe einen mechanischen Diener konstruieren wollen. Er plante ihn als Zwerg, weil Roboter in Gigantenform sich nicht ungern, wie die Erfahrung lehrt, gegen den eigenen Herrn kehren. Zwar tun das Roboterzwerge vielleicht auch, aber mit denen wird man leichter fertig. Der Mechaniker konstruierte zunächst versuchsweise zwei solche Zwerge. Beide waren aber nicht vollkommen. Bevor der Mechaniker die Tugenden beider Zwerge zu einem Perfekt-Zwerg vereinen konnte, starb er. Er hatte aber vorher wenigstens aus der Not eine Tugend gemacht und die beiden zusammengespannt: Jeder von ihnen läuft vierundzwanzig Stunden, wenn er aufgezogen ist. Das Werk des einen Zwerges läuft immer dann ab, wenn das des anderen zwölf Stunden gelaufen ist; und jedem ist ein Mechanismus eingebaut, der bewirkt, daß einer den anderen zu der bestimmten Zeit aufzieht. So sind sie technische Siam-Zwillinge - aneinandergekettet, obwohl sie wegen der Vorzüge des einen, die dem anderen fehlen, aufeinander neidisch sind. Nur sie wissen, wie sie wechselseitig zu reparieren sind, nur Schizeon und sonst niemand, nicht einmal Paitikles, weiß, wie Paitikles funktioniert, und umgekehrt. Würde der eine den anderen zur gegebenen Zeit nicht aufziehen, zerstörte er sich selbst, und um ihre Existenz, vielmehr: ihr Funktionieren nicht aufs Spiel zu setzen, dürfen sie sich also nicht weiter als tunlich voneinander entfernen. Vereinigt, sind sie fast ein Perpetuum mobile - nur der endliche Materialverschleiß wird sie erlahmen lassen - getrennt, wären sie in längstens vierundzwanzig Stunden tot, oder: kaputt- (ruin)

Zwillinge (5)

Zwillinge (6)

Symbiose Verdoppelung Geschwister
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Doppelmensch