Zungenbewegung   «M. Valdemar, schlafen Sie immer noch?»

Wie zuvor vergingen einige Minuten, ehe eine Antwort kam; und während dieser Zeit schien der Sterbende all seine Kräfte zu sammeln, um zu sprechen. Erst als ich die Frage zum viertenmal wiederholt hatte, sagte er sehr schwach, und nahezu unhörbar: «Ja; ich schlafe noch - ich sterbe.» Es war nunmehr  die  Meinung,  oder vielmehr der Wunsch, der Ärzte, man solle M. Valdemar doch ungestört lassen in seinem gegenwärtigen, anscheinend ruhigen Zustande, bis der Tod eintrete - was, so befanden alle einhellig, nun innerhalb weniger Minuten geschehen mußte. Ich beschloß jedoch, ihn ein weiteres Mal anzusprechen, und wiederholte lediglich meine vorangegangene Frage.

Während ich sprach, ging mit den Zügen des Hypnotisierten eine auffällige Veränderung vor sich. Langsam rollten die Augen auf, wobei die Pupillen nach aufwärts verschwanden; die Haut nahm allgemein eine leichen-hafte Färbung an, ähnlich nicht so sehr dem Pergamen als weißem Papiere; und die kreisrunden Flecke, welche sich bis hierher hektisch grell auf dem Mittelpunkte einer jeden Wange abgezeichnet hatten, erloschen mit einem Male. Ich gebrauche diesen Ausdruck, weil die Plötzlichkeit, mit der sie verschwanden, mich an nichts so sehr erinnerte als an eine Kerze, welche durch ein Pusten des Atems ausgeht. Gleichzeitig kroch die Oberlippe von den Zähnen, die sie zuvor vollkommen bedeckt hatte; derweil der Unterkiefer mit hörbarem Ruck herabfiel, so daß der Mund nun weit offen stand und dem Blick in vollem Maße die geschwollene und schwarz angelaufene Zunge preisgab. Ich nehme an, daß keinem der hier Anwesenden die Schrecken des Totenbettes fremd waren; doch so über alles Begreifen gräßlich war die Erscheinung M. Valdernars in diesem Augenblick, daß man allgemein aus dem Bereich seines Bettes zurückfuhr.

Ich fühle jetzt, ich habe in dieser Erzählung einen Punkt erreicht, an welchem jeder Leser in echter Ungläubigkeit auffahren wird. Gleichwohl obliegt es mir, in aller Schlichtheit fortzufahren.

An M. Valdemar ließ sich jetzt kein noch so schwaches Zeichen von Leben entdecken; und da wir zu dem Schlüsse kamen, er sei tot, wollten wir ihn eben der Obhut der Pfleger überantworten, als an seiner Zunge eine heftige Vibrierbewegung bemerkbar ward. Sie dauerte vielleicht eine Minute lang an. Nach Ablauf dieser Zeit kam auf einmal zwischen den reglos klaffenden Kinnbacken eine Stimme hervor - eine Stimme, deren Beschreibung zu versuchen, reiner Wahnsinn von mir wäre. Sicherlich, es gibt wohl zwei oder drei Epitheta, die man dafür teilweise als passend ansehen könnte; so ließe sich zum Beispiel etwa sagen, daß der Klang rauh war, und gebrochen, und hohl; doch das gräßliche Ganze ist unbeschreibbar, und zwar einfach deshalb, weil noch niemals ähnliche Laute das Ohr der Menschheit zittern machten. Allerdings gab es hier zwei Eigentümlichkeiten, welche, so dacht' ich damals und so denk ich noch heut, getrost als charakteristisch für die Modulation bezeichnet werden könnten - wie auch als wohlgeeignet, einen gewissen Begriff von ihrer unirdischen Absonderlichkeit zu vermitteln. Erstens schien die Stimme unsere Ohren - zum mindesten die meinen - wie aus weiter Ferne oder aus irgendeiner tiefen Höhle im Erdinnern zu erreichen. Und zweitens wirkte sie auf mich (wobei ich freilich fürchte, daß es mir nicht gelingen wird, mich, verständlich zu machen), wie gallertartige oder klebrige Substanzen auf den Tastsinn wirken.

Ich habe sowohl von <Klang> als von <Stimme> gesprochen. Ich will damit sagen, daß es sich um Laute von deutlicher - ja, von schier wundersam, schauerlich deutlicher - Silbengliederung handelte. M. Valdemar sprach - ersichtlich in Beantwortung der Frage, welche ich wenige Minuten zuvor an ihn gerichtet hatte. Ich hatte ihn, man wird sich erinnern, gefragt, ob er noch immer schlafe. Jetzt sagte er:

«Ja; - nein, - ich habe geschlafen - und jetzt - bin ich tot.»

Keiner der Anwesenden versuchte den unaussprechlich grauenvollen Schauder zu verleugnen oder zu unterdrücken, welchen diese wenigen Worte, in dieser Weise gesprochen, zwangsläufig allseits bewirken mußten. Mr. L—l (der Student) verlor das Bewußtsein. Die beiden Pfleger verließen unmittelbar die Kammer und waren nicht zur Rückkehr zu bewegen. Meine eigenen Eindrücke will ich dem Leser gar nicht erst begreiflich zu machen versuchen. Nahezu eine Stunde lang beschäftigten wir uns schweigend - ohne auch nur ein Wort zu äußern - damit, Mr. L—l wieder zu beleben. Als er schließlich zu sich gekommen war, widmeten wir uns erneut einer Untersuchung von M. Valdemars Zustand.

Er blieb in jeder Hinsicht so, wie ich ihn zuletzt beschrieben habe, mit der einen Ausnahme nur, daß der Spiegel keinerlei Nachweise mehr dafür erbrachte, daß noch Atem vorhanden sei. Ein Versuch, Blut aus dem Arme zu ziehen, blieb ergebnislos. Ich sollte auch erwähnen, daß dieses Glied nicht länger mehr meinem "Willen folgte. Vergebens mühte ich mich, es der Richtung meiner Hand gehorchen zu lassen. Das einzige wirkliche Anzeichen für eine Wirkung des mesmeri-schen Einflusses bestand jetzt tatsächlich in der Vibrierbewegung der Zunge, die immer dann einsetzte, wenn ich M. Valdemar eine Frage vorlegte. Er schien sich jedesmal anzustrengen, mir zu antworten, doch besaß er nicht mehr hinreichende Willenskraft.  - Edgar Allan Poe, Die Tatsachen im Fall Valdemar. Nach (poe)

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