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andere Beim Würfeln passierte mir dann etwas Seltsames: ich
brauchte gerade eine bestimmte Zahl, und als ich den Becher hinkippte, blieben
alle Würfel, bis auf einen, sofort liegen; während der eine aber noch zwischen
den Gläsern durchrollte, sah ich an ihm die Zahl, die ich brauchte, kurz aufleuchten
und dann verschwinden , bis der Würfel mit der falschen Zahl nach oben liegenblieb.
Dieses kurze Aufleuchten der richtigen Zahl aber war so stark gewesen, daß ich
es empfand, als ob die Zahl auch wirklich gekommen wäre, aber nicht jetzt, sondern
zu EINER ANDEREN ZEIT. Diese andere Zeit bedeutete nicht etwa die Zukunft oder
die Vergangenheit, sie war ihrem Wesen nach eine ANDERE Zeit als die, in der
ich sonst lebte und in der ich vor und zurück dachte. Es war ein durchdringendes
Gefühl von einer ANDEREN Zeit, in der es auch andere Orte geben mußte als irgendwo
jetzt, in der alles eine andere Bedeutung haben mußte als in meinem jetzigen
Bewußtsein, in der auch die Gefühle etwas anderes waren als jetzt die Gefühle
und man selbst im Augenblick gerade erst in dem Zustand, in dem vielleicht die
unbelebte Erde damals war, als nach jahrtausendelangem Regen zum ersten Mal
ein Wassertropfen fiel, ohne sofort wieder zu verdampfen. Das Gefühl, so schnell
es verging, war andrerseits doch so schneidend und schmerzhaft, daß es noch
nachwirkte in einem kurzen, achtlosen Blick der Barfrau,
den ich sofort erlebte als einen nicht zwinkernden, aber auch nicht starren,
nur endlos weiten, endlos erwachenden und zugleich endlos verlöschenden, bis
zum Zerreißen der Netzhaut und zu einem leisen Aufschrei sehnsüchtigen Blick
einer ANDEREN Frau zu jener ANDEREN Zeit. Mein Leben bis jetzt, das durfte noch
nicht alles sein! - Peter Handke, Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am
Main 1972
Zeit, andere (2)
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