eichnung  Was Maigret auffiel, das war eine Fülle von Zeichnungen, die alle das gleiche Thema variierten. Das Papier war schon vergilbt, und aus einigen Daten konnte man ersehen, daß diese Skizzen schon vor etwa zehn Jahren entstanden waren.

Sie unterschieden sich in Stil und Ausführung wesentlich von den übrigen Bildern, waren viel romantischer und wirkten in ihrer Art wie Nachahmungen der Zeichnungen von Gustave Doré durch einen Anfänger.

Eine Federzeichnung, die an erster Stelle zu sehen war, stellte einen Gehängten dar, der an einem Galgen baumelte, auf dem ein riesiger Rabe saß. Und das Hängen war das Leitmotiv von mindestens zwanzig Radierungen, Federzeichnungen und Kupferstichen.

Da war ein Waldrand mit einem Gehängten an jedem Baumast. Und auf dem nächsten Bild ein Kirchturm mit dem Kreuz, an dessen beiden Armen, unter dem Wetterhahn, je ein Gehängter in luftiger Höhe schaukelte.

Da waren Gehängte in reicher Auswahl. Auf einem Bild waren sie nach der Mode des 16. Jahrhunderts gekleidet und führten gewissermaßen einen Hofball der Gauner vor, bei dem die Tänzer ein paar Ellen über der Erde schwebten.

Da war ein Narr in Frack und Zylinder, mit einem Stöckchen in der Hand, an einem Galgen, der die Form eines Gashahnes hatte.

Unter einer anderen Zeichnung dieser Art standen vier Verse der Ballade der Gehängten von Villon. - Georges Simenon, Maigret unter den Anarchisten. München 1972 (Heyne Simenon-Kriminalromane 92, zuerst 1931)

Zeichnung (2) Der Mann legte seinen Hut auf die Kommode, und dann setzte er sich mit ungemeiner Zurückhaltung schweigend auf einen Stuhl neben dem Bett, und von dort aus blickte er den kranken Knaben unentwegt an.

Beim ersten Hinschauen schien auf seinem Gesicht etwas wie ein Lächeln zu liegen; aber nach einer kleinen Weile ließ sich darauf eisige Ironie ablesen. Seinen Augen wohnte eine böse Macht inne.

Oh, es war gänzlich nutzlos, sich aufzulehnen! Mit leiderfüllter Miene schaute der Knabe ihn an, unfähig zu einer Reaktion, indessen der Bruder dastand, sich auf die Kommode stützte und stumm und traurig die Szene beobachtete.

Mit einer nahezu instinktiven Bewegung knipste Giovanni in einem gewissen Augenblick die Deckenlampe in der Zimmermitte an, und bei dem hellen Licht merkte er, daß der Mann eine Aktenmappe, die keinem der Brüder bislang aufgefallen war, auf den Knien hielt und gerade aufmachte.

Mit seiner langen, schmalen Hand zog der Unbekannte eine buntfarbene Zeichnung aus der Aktentasche und legte sie langsam auf die Bettdecke, so daß der Junge sie gut sehen konnte. Der Kleine warf auch einen Blick darauf und versuchte dann mit einem leisen Klagelaut den Blick nach der anderen Seite zu kehren. Aber es war stärker als er: Nach einigen Sekunden begann er, unwiderstehlich angezogen, das Blatt anzustarren.

Es war eine unbegreifliche Zeichnung, und dennoch besaß sie eine arglistige Anziehungskraft. Linien, Kurven, Farbflecke, hingeworfene Andeutungen absurder Bilder, bei denen Darstellungen von Augen vorherrschten — alles ging ineinander über wie in einem phantastischen Tanz, und wenn man sie länger anschaute, sah man die einen gegen die anderen rollen, in einem Rhythmus, der anmutete, als sei er ewig.

Giovanni stand noch immer neben der Kommode und konnte die Zeichnung nicht sehen, wogegen Carlo sie unentwegt anstarrte.

So mochten ungefähr fünfzehn Minuten vergangen sein. Dann nahm der Unbekannte eine andere Zeichnung aus seiner Aktentasche, die der ersten fast gleich und dennoch völlig verschieden von ihr war, und zwar des ausgeprägt Bösartigen wegen, das sie ausstrahlte.

»Genug, genug!« flehte der Knabe, der durch diese Quälerei außer sich geriet. »Giovanni, schick ihn doch fort!«

Der Unbekannte wandte sich, und dabei wurde sein honigsüßes Lächeln noch ausdrucksvoller, zu Giovanni hin und schüttelte den Kopf, um dadurch sein Mitleid auszudrücken, gleich als könne eben nur der größere Bruder ihn verstehen. Er schüttelte indessen den Kopf nicht so, wie es die Menschen für gewöhnlich tun; es war vielmehr ein mechanisches Hin- und Herschaukeln. Giovanni zuckte nicht mit der Wimper; er war gelähmt vor Schmerz, dem Bruder nicht helfen zu können.

So verstrichen zwei Stunden in tiefstem Stillschweigen, das lediglich von den Jammerlauten des Knaben unterbrochen wurde. Dann verfiel Carlo langsam in einen betäubenden Schlaf, der mit Anfällen heftiger Unruhe abwechselte. Der Unbekannte - inzwischen hatte Giovanni das Deckenlicht wieder ausgeschaltet -nahm abermals seine Zeichnungen zur Hand (zu seinem größten Erstaunen konnte Giovanni nichts wahrnehmen als zwei Blätter blendend weißen Papiers), und sein Verhalten wurde nach und nach immer mehr das eines Mannes, der im Begriff steht, sich zu verabschieden.

Um drei Uhr nachts lag der kleine Junge in unruhigem Schlaf. Mit unveränderter Miene stand der Mann auf, glitt durch das Zimmer und verschwand im Dunkel. - Dino Buzzati, Die Maschine des Aldo Christofari. Frankfurt am Main 1985

Zeichnung (3)

Zeichnung (4)  Dieses Vergnügen, verehrtes Publikum, ist es, was ich Ihnen ans Herz legen will — es ist das, was mich befällt, wenn ich in Häusern, in denen ich geliebt werde, kleine nackte Mädchen zeichne, was mein Schönstes ist, wie es Pascins Schönstes war, als er der Kunst abgeschworen hatte. Und sollte in einem von zehn Fällen ein wenig Kunstambition des jeweiligen Kunden befriedigt werden müssen: nun gut, dann wird das kleine Mädchen eingebastelt in eine Ansammlung dunkler Herrschaften, deren Habitus meistens keinerlei Rückschlüsse auf ihre berufliche Tätigkeit ermöglicht. Das taucht die Angelegenheit ins Geheimnisvolle, und es entsteht jene Atmosphäre, die dem Kritikaster aller Zeiten so sehr entspricht. Ich bitte Sie: was könnte schon die Reihe dunkler Rücken bedeuten — wenn nicht, daß sie den Raum verstellen und in ihrer amorphen Textur die Bedrohung schlechthin sind. Das Hütchen obenauf ist selbstverständlich Metapher (wofür wohl?), und der weiße — weil erhoben — sichtbare Arm des erwähnten Lieblingssujets ist, dem Bilde folgend, der apokalyptische Fingerzeig für irgend etwas. Na klar, soweit Sie denken. Würden Sie mir glauben, so ist der Arm nur da, um sich zu zeigen, denn er ist mein Speziell-Schönstes. Es ist wie mit der Hand, die auf dem Bild »Die Überfahrt zum Schreckenstein« des Ludwig Richter im Wasser hängt: nämlich zur eigenen Kühlung und nicht um die Waagerechte der Bordwand zu unterbrechen.

Zurück zum Thema: bin ich nun der kleinen sich umeinanderrollenden, sich zwickenden und sich spreizenden Mädchen müde — was vorkommt —, so gibt es zweite, dritte, vierte und so weiter Vorlieben, wie etwa der verwelkte Ellenbogenbeutel meiner süßen Tante, ein schwarzer Lederhandschuh auf schwarzer Unterlage, Rosen, Zähne — in jederlei Gesicht. Ein gewetzter Tänzer. Leni mit der kranken Hüfte. Photos aus dem Modejournal. Eine bombastische Komposition von Herrn Füssli oder eine gute Komposition meines Kollegen Paul Wunderlich. Ein Witz von Ensor oder wieder ein Gesicht oder nur eine Frisur, in natura, oder vielleicht abzuzeichnen bei Schnorr von Carolsfeld; das eingedrückte Profil meines Schwiegervaters oder die Zunge von Hans-Werner, meinem Neufundländer. Sonntagsspaziergänger. Eine Bluse mit Füllung. Eine Simplizissimuszeichnung von Thöny oder ein Höpker-Photo. Die Fettfalte vor einer Achsel und noch mal Zähne. Ein Bilderbuch für Verena oder auch ein Neger für Gesche Poppes Schlafzimmer. Ein Plattenumschlag von den Supremes, das Auge einer Pute oder einer Frau, wo balla-balla. Ein Auge in Falten oder im Schatten der Haare oder das eigene Auge oder die eigenen Zähne oder das ganze eigene Gesicht — in gewöhnlicher Pose für Verena und manchmal sanft und schön für Verena, aufgekünstelt für Carl Vogel und routiniert für diesen oder jenen aus Gründen der großen Nachfrage. Tausend Mark zahlt der Fruchtimporteur Hegewisch für eins. Ein Grund, nach Fertigstellung desselben, eine minuziöse Kopie anzufertigen für die eigene Schublade. Altersversorgung für die reiche Frau.  - (jan)

 

Kunst

 

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme