eichnen  Wenn ich zeichne, habe ich manchmal das Gefühl, ich sei ein spiritistisches Medium, gelenkt von den Gestalten, die ich heraufbeschworen habe. Es ist, als träfen sie die Entscheidung darüber, in welcher Form sie erscheinen wollten. Während ihrer Geburt kümmern sie sich wenig um meine kritische Meinung, und auf den Fortgang ihrer Entwicklung kann ich keinen großen Einfluß nehmen. Meistens sind es sehr schwierige und starrköpfige Wesen. - M. C. Escher, nach (hof)

Zeichnen (2) Der gespannte Wille gehört wesentlich zum Zeichnen, denn das Zeichnen verlangt das Zusammenwirken einer ganzen Reihe von selbständigen Organen, die nur darauf warten, die Freiheit ihrer Funktionen zurückzugewinnen. Der Blick möchte umherschweifen; die Hand abrunden und die Tangente erreichen. Um zu jener Freiheit des Zeichnens zu gelangen, die dem Willen des Zeichners zum Sieg verhilft, muß man mit allen diesen örtlich gebundenen Freiheiten fertigwerden. Letzten Endes eine Frage der Selbstbeherrschung ... Damit die Hand frei werde für den Dienst der Augen, muß man sie ihrer Freiheit im Dienste der Muskeln berauben; im besondern: sie dazu abrichten, Linien nach jeder beliebigen Richtung zu ziehen, was ihr nicht behagt. Giotto zeichnete mit dem Pinsel einen reinen Kreis, rechtsum und linksum.

Die Unabhängigkeit der verschiedenen Organe, ihr Versagen, ihre Spannungen, ihre Geschicklichkeiten widerstreben einer völlig dem Willen untergeordneten Funktion. Es folgt daraus, daß das Zeichnen, wenn ein Gegenstand so genau wie möglich wiedergegeben werden soll, den denkbar wachsamsten Zustand erfordert: nichts, was mit dem Traum sich weniger vertrüge, weil ja diese Spannung jeden Augenblick den natürlichen Ablauf der Vorgänge unterbrechen muß, sich zu hüten hat vor den Verlockungen der Kurve, die entstehen will.

Ingres pflegte zu sagen, der Stift auf dem Papier müsse die Feinfühligkeit einer Fliege besitzen, die auf einer Fensterscheibe herumspaziert.  - (deg)

Zeichnen (3)

- Saul Steinberg

Zeichnen (4)   Es war ein merkwürdiges Gefühl. Zeichnete ich seinen Kopf, seinen Hals, seine Arme, war alles in Ordnung. Wanderte mein Blick aber über den Rest seines Körpers, machte sich die Wirkung bemerkbar durch ein kaum wahrnehmbares Erzittern seines Phallus. Fast wäre ich der Versuchung erlegen, das emporragende Glied mit derselben Nonchalance zu zeichnen, mit der ich sein Knie skizziert hatte. Aber die verstörte Jungfrau in mir war beunruhigt. Ich dachte, ich muß jetzt ganz aufmerksam und bedächtig weitermachen: Vielleicht geht die Krise vorüber, oder aber er wird sich an mir abreagieren. Aber nein: Der junge Mann rührte sich nicht, stand wie gebannt da, war zufrieden. Ich war es, die verwirrt war. Und ich wußte nicht, warum.

Als ich fertig war, zog er sich seelenruhig an und schien wieder ganz gelassen. Er kam auf mich zu, schüttelte mir höflich die Hand und sagte: »Darf ich morgen um dieselbe Zeit wiederkommen?«  - (nin)

Zeichnen (5)  Jeder Stein ist ein potentielles Gebirge. Die Eingeweihten wechseln ohne Schwierigkeit von einem Größengrad zum anderen. Tonfang Hiüan lebte am Fuße eines Gebirges in einer Hütte mit einer Frau, die ihn das Tao lehrte. Eine andere Zauberin kam, um Schach mit ihm zu spielen. Da er beschäftigt war, bat er sie, sie sollten sich verlustieren und auf ihn warten: »Daraufhin machen die beiden Frauen mit dem Finger eine Zeichnung vor sich auf den Boden. Der verwandelt sich in einen großen See, dessen Ufer mit hohen Kiefern und grünem Bambus bestanden sind. Eine Barke treibt auf ihm. Eine der Frauen besteigt sie. Die andere wirft einen Schuh in den See. Er verwandelt sich in eine Barke, die sie besteigt. Singend fahren die beiden Zauberinnen spazieren. Zu guter Letzt lassen sie alles mittels einer Formel wieder verschwinden.« Die Unsterblichen wissen Örtlichkeiten zu erschaffen, in sie hineinzugelangen, in ihnen zu verschwinden. Zeichnen und Malen genügt ihnen: schon entsteht ein Gebirge.  - (cail)

Zeichnen (5) Ich ging zur Chelsea School of Art. Ich machte mir Rührei auf dem Gasherd und malte und malte. Aber mein Vater hatte einen Spion in London, der mich wöchentlich besuchte, Serge Chermayeff. Und Serge sagte, Sie sollten wenigstens versuchen, zeichnen zu lernen. Gehen Sie zu Amedée Ozenfant. Also wurde ich dorthin geschickt. Das war eine winzige Kunstschule, in einem Schuppen in West Kensington. Ich brachte mit, was ich hatte, Ozenfant schaute es an und sagte: Aha! Morgen fangen wir an. Ab jetzt wird richtig gearbeitet. Und er ließ mich ackern wie der Teufel. Man mußte die chemische Zusammensetzung aller Materialien kennen, einschließlich Bleistift und Papier. Man bekam einen Apfel, ein Stück Papier und einen Bleistift, etwa 9H, das war wie Zeichnen mit einem Stück Stahl. Und man mußte eine Strichzeichnung machen, mit einem einzigen Strich. Ich zeichnete den Apfel sechs Monate lang, immer denselben Apfel, der sich schon in eine Art Mumie verwandelt hatte. Ozenfant war ein sehr guter Lehrer, weil er den Blick hatte, einen aber nie entmutigte.  - Leonora Carrington, Interview mit Paul de Angelis, in: Leonora Carrington, Das Haus der Angst. Frankfurt am Main 2008

Zeichnen (6)

Zeichnen (7)  Es besteht ein ungeheurer Unterschied zwischen dem bloßen Sehen einer Sache und dem Sehen, während man sie zeichnet. Oder vielmehr: es sind zwei sehr verschiedene Sachen, die man sieht. Selbst aus einem unsern Augen höchst vertrauten Gegenstand wird etwas völlig anderes, sobald man sich anschickt, ihn zu zeichnen: man wird inne, daß er einem unbekannt war, daß man ihn überhaupt noch nie wirklich gesehen hatte. Das Auge hatte bis dahin nur die Rolle eines Vermittlers gespielt. Wohl gingen von ihm Antriebe zum Sprechen, zum Denken aus; es leitete unsere Schritte, unsere Bewegungen; es erregte zuweilen unsere Gefühle. Es vermochte uns sogar zu bezaubern, aber immer nur durch Ergebnisse, Nach- oder Rückwirkungen seines Sehens, die an die Stelle der Schau selber traten und diese also, indem sie von ihr zehrten, zunichte machten.

Aber das Zeichnen nach einem Gegenstand erteilt dem Auge einen bestimmten, von unserem Willen genährten Befehl. Man muß also wollen, in diesem Fall, um zu sehen, und dieses gewollte Sehen findet im Zeichnen sein Mittel zugleich und sein Ziel.

Es ist mir unmöglich, von irgendeinem Ding, das ich wahrnehme, ein deutliches Bild zu ge­winnen, ohne daß ich es in Gedanken zeichne, und es ist mir ebenso unmöglich, dieses Ding zu zeichnen, ohne eine freiwillige Aufmerksamkeit, die, was ich zuvor wahrzunehmen und gut zu kennen geglaubt, in eigentümlicher Weise verwandelt. Ich entdecke, daß ich nicht kannte, was ich kannte: die Nase meiner besten Freundin ...   - (deg)

Linie Zeichnung
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