Zahnarzt, geiler    Zunächst tat Weed, als merkte er nichts, dann nickte er zögernd hinüber. Doch als Antwort kam nur dieses Starren, das ihn frösteln ließ, weil es zu erkennen gab, daß es wußte, wer Weed war. In Bars kleiner Küstenstädte und in Country-Kneipen im Hinterland, in Rock 'n' Roll-Kaschemmen tief in irgendeinem Canyon voller Schlangen und LSD-Laboratorien, an jedem Ort im Umkreis von hundert Meilen, an dem Weed und Frenesi ein paar stille Stunden verbringen wollten, saß an irgendeinem Nebentisch der stumme, starrende Dr. Larry Elasmo oder jedenfalls jemand, der, wie einen Umhang und Schleier, dessen an den Rändern flimmerndes Fernseh-Ich trug... Und gewöhnlich war er in Begleitung einer bildhübschen, braungebrannten Blondine, vielleicht derselben wie letztes Mal, vielleicht aber auch nicht.

Wie die Dinge sich entwickelten, besaß der geile Zahnarzt eine Konzession, die es ihm erlaubte, sich in das Leben wildfremder Leute einzumischen und ihre kostbare Zeit zu verschwenden - ein Vorgang, den Weed, trotz all der Jahre, die er gestrandet am Meer des Todes verbracht hatte, noch immer nicht verstand. Irgendwie war der Doktor damals autorisiert gewesen, allen möglichen Leuten, darunter auch Weed, Vorladungen zu schicken, in denen sie aufgefordert wurden, sich zu einer bestimmten Zeit in seiner Praxis einzufinden. Ordnungsstrafen für den Fall des Nichterscheinens waren nicht ausdrücklich erwähnt, aber angedeutet. Die Praxis lag in der Innenstadt, in einer Gegend voller alter Backsteinhotels und Seemannskneipen, mit altersschwachen Palmen, die die Straßenlaternen überragten - ein wuchernder Irrgarten aus leerstehenden Räumen, abgeteilt durch primitive Zwischenwände, in einem ausgeweideten Öffentlichen, möglicherweise staatlichen, jedenfalls schmutzigen und heruntergekommenen Gebäude, dessen klassische Säulen auf der Straßenseite mit Ausnahme der Kehlungen wie in Airbrush-Technik mit einer schwarzen Schmierschicht überzogen waren und dessen Inschrift im Fries man bis zur Unleserlichkeit zermeißelt hatte. Eine breite, schmutzige Treppe, auf der ein eiliges Kommen und Gehen von Besuchern herrschte, führte zum Eingang. Drinnen wurden auf allen Etagen kleine Geschäfte getätigt, und diese Geschäftigkeit strahlte aus bis in die große, hallende Eingangshalle aus Beton, an deren Wänden geometrisch strenge Statuen finster aufragten und hinabstarrten wie die Heiligen des Glaubens, dem dieses Gebäude einst gedient hatte.

Weed hätte die Vorladung ignorieren können, aber jene erste Begegnung mit dem starrenden Finsterling auf dem Freeway verfolgte ihn, und darum erschien er pünktlich und mit Jackett und Krawatte, mußte aber warten - wie sich herausstellte, den ganzen Tag -, und zwar in einer Gemeinschaftszelle von Wartezimmer gleich neben dem Eingang, wo er auf einem wackligen Klappstuhl saß, als Lektüre nur Faltblätter und monatealte, zerfledderte Zeitschriften, und sich nicht traute hinauszugehen, um irgendwo etwas zu essen. So war es immer. Immer war Dr. Elasmo zu spät, manchmal Tage zu spät, doch jedesmal bestand er darauf, daß Weed einen Antrag auf Verschiebung des Termins ausfüllte, mit einer Rubrik «Gründe (bitte ausführlich)», als wäre es Weeds Schuld. Weed fühlte sich von Mal zu Mal schuldiger. Er wurde zum Stammgast im Wartezimmer, zu einem unter vielen, die doch eigentlich Zahnpatienten hätten sein sollen, sich jedoch stets als etwas anderes erwiesen, nie lächelten und nervös durch die Tür in der Barriere traten, welche wie ein Altargitter, wie eine Schranke im Gerichtssaal die Öffentlichkeit vom Allerheiligsten der Praxis mit all ihren Mysterien trennte. Manchmal schob Dr. Elasmo einen Rolltisch vor sich her, auf dem ein Tablett voller schimmernder... Warum konnte Weed nie erkennen, was es war - lag das vielleicht an dem funzligen Licht...? Zahnarztinstrumente? «Willkommen in Dr. Elasmos Welt des Unbehagens», flüsterte er und machte sich über die Formulare her. Jedesmal bekam er dasselbe zu hören, eine Antwort, die er nicht begriff und die immer mit dem Papierkram zu tun hatte: «Das kann ich so nicht akzeptieren. Das müssen Sie noch mal ausfüllen. Neu schreiben. Sie wissen schon, was ich meine.» Es war eine lange, fortdauernde Transaktion, die wie ein zahnärztlicher Eingriff durchgeführt wurde: zugefügter Schmerz, aufgeschobener Schmerz, betäubter Schmerz, Schmerz, der sich in Amnesie verwandelt, wieviel davon und wie oft...? Manchmal stand Ilse, die Hygienikerin, an einer Tür zu einem Gang, der, wie er wußte, zu einem hellen, hohen Raum mit einem winzigen Fenster unter der Decke führte, unerreichbar hoch, ein schmaler Streifen Himmel... Sie hatte etwas in der Hand... etwas Weißes... er konnte sich nicht mehr erinnern...  - Thomas Pynchon, Vineland. Reinbek bei Hamburg 2015

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