ählbarkeit Ich bückte mich, streckte die Hand in den Riß und nahm einige heraus. Ein leichtes Zittern durchlief mich. Ich steckte die Handvoll Steine in die rechte Tasche, in der sich eine kleine Schere und ein Brief aus Allahabad befanden. Diese beiden Zufallsdinge haben ihren Platz in meiner Geschichte.

Wieder in meiner Hütte, zog ich mir die Jacke aus. Ich legte mich aufs Bett und träumte aufs neue von dem Tiger. Im Traum achtete ich auf die Farbe: es war die des Tigers früherer Träurne und die der Steinchen auf dem Plateau. Die hochstehende Sonne fiel mir ins Gesicht und weckte mich. Ich stand auf. Die Schere und der Brief behinderten mich beim Herausnehmen der Plättchen. Ich holte eine erste Handvoll heraus und hatte das Gefühl, daß zwei oder drei zurückgeblieben waren. Eine Art Prickeln, eine ganz leichte Erregung erhitzten meine Hand. Als ich sie öffnete, sah ich, daß es dreißig oder vierzig Scheiben waren. Ich hätte geschworen, daß es nicht mehr als zehn wären. Ich legte sie auf den Tisch und langte nach den anderen. Diese brauchte ich nicht erst zu zählen, um festzustellen, daß sie sich vervielfacht hatten. Ich legte sie zu einem einzigen Stapel zusammen und versuchte sie Stück für Stück zu zählen.

Die einfache Operation erwies sich als unmöglich. Ich faßte irgendeine von ihnen fest ins Auge. faßte sie mit Daumen und Zeigefinger, und sobald sie vereinzelt war, waren es viele. Ich vergewisserte mich. daß ich kein Fieber hatte, und wiederholte den Versuch mehrmals. Das obszöne Wunder wiederholte sich. Ich spürte Kälte in den Füßen und im Unterleib. und es zitterten mir die Knie. Ich weiß nicht, wieviel Zeit verstrich.

Ohne hinzusehen raffte ich die Steine zu einem einzigen Haufen zusammen und warf sie aus dem Fenster. Seltsam erleichtert spürte ich, daß ihre Zahl sich verringert hatte. Mit Nachdruck schloß ich die Tür und streckte mich aufs Bett. Ich versuchte genau die frühere Position einzunehmen und wollte mich dazu überreden, daß alles ein Traum gewesen sei. Um nicht an die Steine zu denken, um die Zeit irgendwie hinzubringen. wiederholte ich mit lauter Stimme und langsamer Genauigkeit die acht Definitionen und die sieben Axiome der Ethik. Ob sie mir halfen, weiß ich nicht. - Jorge Luis Borges, Blaue Tiger. In: Blaue Tiger und andere Geschichten. München 1988 (zuerst 1977)

Zählbarkeit (2)   Die Frage nach der Zahl der Opfer Gilles de Rais' ist unlösbar. Der Zivilprozeß findet vielleicht einen annehmbaren Ausdruck, wenn er sagt: ».,. besagter Sire hat mehrere kleine Kinder gefangen und fangen lassen, nicht nur zehn, auch nicht zwanzig, aber dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig, hundert, zweihundert und mehr, so daß man die Zahl nicht klären kann.«

Die in der Anklageakte des Kirchenprozesses in Artikel 27 angegebene Zahl ist ein wenig genauer: Gilles soll »hundertvierzig oder mehr Kinder, Mädchen und Jungen, getötet haben oder getötet haben lassen«.

Andere im Prozeß angegebene Zahlen stehen auch nicht eindeutig fest: Poitou und Henriet sollen sechzig und mehr herbeigeschafft haben. An einer anderen Stelle wird diese Zahl auf vierzig vermindert. Diese Zahlen lassen uns im unklaren.

Andererseits soll Henriet selbst ein Dutzend Kinder umgebracht haben, und zwar im Haus La Suze.

Die Aussage Henriets vor den geistlichen Richtern hat vielleicht mehr Gewicht. Nach Henriet »freute sich Gilles beim Anblick abgetrennter Kopfe, zeigte sie ihm, dem Zeugen, und Etienne Corrillaut..., und fragte sie, welcher der besagten Köpfe der schönste sei, der eben abgetrennte Kopf oder der von gestern oder ein anderer von vorgestern ...«. Die Vermutung, daß diese gräßliche Äußerungen von einer nachträglich rekonstruierten Vorstellung herrührt, ist nicht ausgeschlossen. Aber es ist durchaus denkbar, daß an einem einzigen Tag drei Kinderköpfe nebeneinander gelegen haben, woraus sich schließen läßt, wie hoch ungefähr die Zahl der Ermordeten ist.

Aber auch die Zahl der durch genaue und offensichtlich ernstzunehmende Aussagen bekannten Opfer kann keine Klarheit schaffen. Immerhin könnte die aus ihnen mit logischer Konsequenz hervorgehende Summe als minimum gelten. Es ist also statthaft zu sagen, daß fünfunddreißig Opfer dieses Minimum darstellen, das allerdings weit unter der wahrscheinlichen Zahl liegt...

Was das Alter betrifft, so beziehen sich die von mir erhobenen genauen Hinweise auf zwei siebenjährige Kinder, vier achtjährige, drei neunjährige, zwei zehnjährige, zwei zwölfjährige, ein vierzehnjähriges, zwei fünfzehnjährige, einen Achtzehnjährigen und einen Zwanzigjährigen.

Bekanntlich variierte das Geschlecht der Kinder. Zweifellos zog Gilles die Knaben vor, aber wenn es an Knaben mangelte, griff er auf Mädchen zurück. Wir weisen nur darauf hin, daß sich unter den in den Aussagen erwähnten Opfern kein einziges Mädchen befindet. Freilich kann das Wort Kind sowohl ein Mädchen als auch einen Jungen bezeichnen. Man kann jedoch annehmen, daß Sire de Rais nur ausnahmsweise Mädchen umbrachte, wenn die Zubringer oder Zubringerinnen keine Jungen auftreiben konnten.    - Georges Bataille, Gilles de Rais. Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1975 (zuerst 1965)

 

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