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sage
)
Worthalten (2) Eine dieser Elenden, die letzthin
gehenkt worden ist, hatte Herrn von Louvois sagen
lassen, wenn er sie begnadige, werde sie ihm die erstaunlichsten Eröffnungen
bieten. Ihre Bitte wurde abgelehnt. »Gut, nun werden auch die schlimmsten
Qualen mir kein Wort mehr entlocken.« Man hat sie gefoltert, gewöhnlich,
ungewöhnlich und schließlich so ungewöhnlich ungewöhnlich, daß sie glaubte,
zu sterben, wie, nebenbei gesagt, es einer anderen ergangen ist, deren
Puls stehen blieb, während der Arzt dessen Schläge zählen wollte. Diese
Frau also ertrug das ganze Martyrium, ohne zu reden. Man führte sie zum
Grève-Platz. Dort verlangte sie zu sprechen. Sie stellte sich heroisch
zur Schau und rief: »Meine Herren, melden Sie Herrn von Louvois, ich lasse
ihn grüßen und ich hätte mein Wort gehalten. So. Jetzt gebt mir den Rest«,
was sofort und rasch geschah. - (
sev
)
Worthalten (3) Ein kluger Herrscher kann und
darf sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Schaden gereicht und die
Gründe hinfällig geworden sind, die ihn veranlasst hatten, sein Wort zu
geben. Wären alle Menschen gut, so wäre dieser Rat schlecht; da sie aber
schlecht sind und ihr Wort dir gegenüber auch brechen würden, so brauchst
auch du es ihnen gegenüber nicht zu halten. - Niccolo
Machiavelli
Worthalten (4) Das Würfelspiel treiben sie, worüber
man sich wundern möchte, nüchtern, ganz wie ein ernstes Geschäft, mit solcher
Verwegenheit bei Gewinn und Verlust, dass sie nichts mehr haben, auf den äussersten
und letzten Wurf sogar ihre Freiheit und Person setzen. Der Ueberwundene begiebt
sich freiwillig in die Knechtschaft. Ist er auch jünger und stärker, so lässt
er sich dennoch binden und verkaufen. So gross ist ihr Starrsinn
bei solcher Verkehrtheit; sie selbst nennen es Worthalten. - Tacitus,
Germania. Nach (
hel
)
Worthalten (5) Ich weiß nicht mehr, in welchem Hospital der Chirurg den Bauch eines Patienten öffnet, der von Krebs befallen ist. Er entdeckt einen so fortgeschrittenen und riesigen Tumor, daß er darauf verzichtet, ihn herauszunehmen, und sich beeilt, den Bauch wieder zuzunähen.
Dann denkt er nicht mehr daran, überzeugt, daß der Mann einige Tage später gestorben ist.
Die Jahre vergehen. Zehn, fünfzehn Jahre, nun, es spielt keine Rolle. Man bringt ihm einen Patienten, der am Blinddarm operiert werden muß, und etwas an der Narbe, die er auf dem Bauch hat, kommt ihm seltsam vor.
Er muß an den Krebskranken von einst denken, findet aber keine Spur von Krebs.
Nach beendeter Operation erkundigt er sich, und es handelt sich tatsächlich
um den Mann, den er einst operiert hat. Es ist ein einfacher Mann. Man hat ihm
gesagt, die Operation werde ihn heilen. Er ist operiert worden und ist wieder
gesund geworden. - Georges Simenon, Der Haselnußstrauch. Köln 1970 (zuerst
1969)
Worthalten (6) «Ich bin Dunois, genannt Der Engel, der Sohn des Gemüsehändlers aus Brive. Wenn Sie nicht geschäftlich mit meinem Vater zu tun haben, sollte mich's wundern, und wenn Sie noch nie von mir haben sprechen hören, noch mehr.»
Ich war wie gelähmt vor Entsetzen. Er fuhr fort: «Zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt, weil ich meines Vaters Frau umgebracht habe, vor sechs Jahren, bin ich gerade zum drittenmal aus Guayana ausgebrochen. Er vor allem sollte <dran glauben>, der Alte. Und diesmal geht's ihm an den Kragen. Ich bin nicht davongelaufen, um frei zu sein. An meiner Freiheit liegt mir nur bis Sonntag abend. Heute haben wir Freitag. An meiner Freiheit liegt mir nur so lange, bis ich mein Gelöbnis erfüllt habe, und für nichts anders bin ich dreimal ausgebrochen. Meine Minuten sind gezählt, jeder meiner Schritte. Zeigen Sie mich an. Keine Mauer wird mich aufhalten. Er muß <dran glaubem, bis spätestens am Sonntag, und gleich drauf stelle ich mich der Polizei.»
Nach dieser Erklärung, die gar nichts Großsprecherisches hatte, gab er auch die Einzelheiten seines Vorhabens preis: er erläuterte seine Fluchtpläne, breitete seine Karten aus, zeigte die Landeplätze, die er auf den Millimeter mit einem Stückchen Kohle, mit Zündhölzern und Siegelwachs eingetragen hatte, beschrieb, wo er sich aufgehalten., welche Mittel ihm zur Verfügung gestanden hatten. Als er zu Ende war, langten wir in Chaminadour an. Um ihn auf die Probe zu stellen, forderte ich ihn auf, vor einer Straße abzusteigen, die nicht die seine war. Er sah mich an und lächelte: «Das ist noch nicht die Straße nach Lardillier, die ich einschlagen muß.» Und dann war er es, der mich in einer Gegend, die er nie im Leben betreten hatte, vor der rechten Straße anhalten ließ. Wir sagten uns Lebwohl. Bevor er sich abwandte, sagte er, wie halb im Scherz: «Eins nur nehm ich dir übel: seit drei Tagen hab ich Durst, und du hast mich daran gehindert, zu trinken; seit sechs Jahren hab ich kein Weib gesehen, und du hast mir nicht die Zeit gelassen, der da einen zu verpassen. Na ja, ist wohl besser so, danke. Ich bin stärker für das, was ich zu tun hab, und wir sind auch nicht wie die andern - wir? ich. Wir leben nicht fürs Vergnügen, uns ruft die Pflicht.»
Wenn ich behaupten wollte, ich hätte die Hand dieses Mannes ohne Hochachtung in der meinen gehalten, so müßte ich lügen, und wenn ich ihn angezeigt hätte, ich wäre mir selber verächtlich vorgekommen. Ich stellte ihn der Vorsehung anheim und schwieg.
Am Samstag erfuhr ich, daß man ihn verhaftet hatte. Aber am Sonntagmorgen
war er zum vierten Male entsprungen, und am Sonntagabend, bevor er sich der
Polizei stellte, hatte er seinen Vater erschlagen, wie er es gelobt hatte. - Marcel Jouhandeau, Dunois
genannt Der Engel oder «Wir leben nicht fürs Vergnügen». In: M. J., Chaminadour. Reinbek bei Hamburg 1964
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