Um aufzufliegen, stößt sich der Vogel mit den Füßen vom Boden ab. Möge dieses Bild euch, meine Töchter, immerfort an das einzige geistige Gebot erinnern.
Eine lasterhafte Kokotte sein, ohne den Ehemann zu betrügen, nicht einmal mit einem Blick - das ist der Gipfel der Wollust, so es euch denn gelingt.
Kokotte im Inneren sein, den Ehemann im Innern betrügen, in
der Umarmung, ihn küssen mit Küssen, die ihm nicht zugedacht sind — ja, ihr
überlegenen Frauen, o meine geheimnisvollen Kopfwesen —, das ist wahre Wollust.
- Fernando Pessoa, Das Buch
der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Zürich 2003 (22. 8. 1931)
Wollust (2) Das Weib. Mit 14 Jahren gewinnt das Gesicht Farbe, die Augen strahlen, die Brüste schwellen, Menstruation beginnt, die Schamteile erblühen; unruhig, fröhlich, singt gern.
Die Natur. Die Fische sind im Frühling schmackhaft, die Vögel singen, die schönsten Weibchen kommen hervor, die Henne wird rot im Gesicht, der Pfau wird mit schimmernden Federn versehen, das Birkhuhn mit roten Strichen an den Augen schwillt, braust auf, die Drossel musiziert, die Nachtigall schlägt, der Ziegenbock kämpft, der Widder stößt, der Hirsch bekommt ein nacktes Geweih.
Die Anatomie. Die Samengefäße größer, weiter, diese Gefäße doppelt
und dreimal so groß bei Wollüstigen, verdoppelte Gefäße bei den Wollüstigen,
die Eier schwellen, daher die grünliche Gesichtsfarbe, sie riecht am ganzen
Körper, der Geruch erregt, sie sind schön vor Wollust; kleine Mädchen, alte
Frauen sind nicht schön; die gelehrtesten, die wollüstigsten, Tycho Brahe, Newton.
Unruhige Jünglinge werden die besten Männer durch die Liebe; das Gedächtnis
ist ausgezeichnet; fröhlich, wagemutig; Gesichtsröte. Blässe der Deflorierten.
Die Frau manisch, nackt, von der Unzucht traurig,
gesund. Blumen schön und wohlduftend vor Liebe, nach der Blüte vergeht die Schönheit,
der Duft. Die Scham am längsten beim wollüstigsten, wie beim Stier; Haare lang,
dicht, widerborstig. Die junge Frau liebt den Gatten, die alte Frau ist voller
Zorn. -
(
nem
)
Wollust (3)
Je mehr Schwierigkeiten ich beim Schreiben
empfinde, desto größer wird meine Kühnheit (das bewahrt mich vor der Pedanterie,
in die ich sonst sicher verfallen würde). Ich habe Arbeitspläne bis ans Ende
meines Lebens, und wenn ich manchmal bittere Augenblicke erlebe, die mich fast
vor Wut schreien lassen, weil ich meine Ohnmacht und meine Schwäche spüre, so
gibt es doch auch andere, in denen ich Mühe habe, meine Freude zurückzuhalten.
Etwas Tiefes und außerordentlich Wollüstiges fließt in mir in heftigen Strahlen
über wie ein Ausspritzen der Seele. Ich fühle mich
fortgetragen und trunken von meinem Denken, als erreichte mich durch eine innere
Luke ein Schwall heißer Düfte. - (
flb
)
Wollust (4) 1) jeder hohe Grad von Vergnügen, in so fern sich dasselbe auf eine bestimmte Art des Genusses bezieht u. dieser Genuß
dann völlige Befriedigung als Vollgenuß gewährt, bes. 2) jede höchst gesteigerte sinnliche Lust,
u. da die Befriedigung des. Geschlechtstriebes im kräftigen Leben den höchsten, in Rausch übergehenden Sinnengenuß
gewährt, bes. 3) die Geschlechtslust, deren rücksichtslose, nicht von der Vernunft im Zaum gehaltene
Befriedigung den Körper schwächt, die Gesundheit untergräbt, den Geist abstumpft u. den Menschen
dem physischen u. moralischen Untergange entgegen führt. Ein Mensch, welcher sich von dem Hange
zu wollüstigen Genüssen haltungslos hinreißen läßt, heißt ein Wollüstling.
-
Pierer's Universal-Lexikon (1865)
Wollust (5)
Wol! wir wolln bald des Engels Schönheit
sehn! |
- Daniel Casper von Lohenstein. Sophonisbe. Trauerspiel.
Breslau 1680 (Reinbek b. Hamburg 1968, rk 514/515)
Wollust (6) Die schnöde / beliebige / sanffte verführische / unreine / liebliche / nie ersättigte und offt ermüdete / nie versicherte / blinde / bereute / unbedahte / sorgenfreye / viehische / kurtze / bald verblichne / Lasterhaffte / Lustreitzende / Sünden=Mutter / angenehme / süßlichbittre / krafftlose / ärgerliche / vergallte / Geilheit / die gesaltzne Erdenlust /der ärgste Feind derJugend / verfolgt die schwache Tugend / wer seines Leibes Stärk zu GOTTES Greuel mißbrauche / nicht lang auf Erden taucht. Die Wollust ist das verborgne Schwert Joabs, welches uns unerwartet ermordet. Die ist die Delila / welche uns unsre Stärke mit List abraubt / sie ist die falsche Jael, welche den Milchbecher reicht und eben mit der Hand den Nagel durch das Haubt schläget : sie ist die verführische Schlange / welche Evam und alle ihre Töchterverführet. Die Wöllüster stürzen sich in ewigen Unlust.
Die Wollust wird gebildet / in Gestalt einerjungen geilen Metzen / in einer
Hand tragend eine Kugel mit zweyen Flügeln / gehend auf einen mit Blumen bestreuten
Weg / an den Füßen beflügelt / für sich habend einen tieffen Abgrund. - (
hrs
)
Wollust (7) Wenn diese törichten Gesetzgeber doch
nur wüssten, wie beflissen sie unsere Gefühle befördern, in dem sie sich das
Recht anmaßen, den Menschen Satzungen aufzuerlegen. Sich keinen Deut um Gesetze
zu scheren, sie samt und sonders zu brechen, mein Freund, dies ist die wahre
Kunst, Wollust zu empfinden. Erlerne diese Kunst und zerreiße alle Zügel. -
Donatien Alphonse François
de
Sade, Justine und Juliette
Wollust (8) Ihr habt mir zu grausame Augen und
blickt lüstern nach Leidenden. Hat sich nicht nur
eure Wollust verkleidet und heißt sich Mitleiden?"
- Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra
Wollust (9)
Wollust (10) Die Wollust gleicht dem Ertrinken.
Im Augenblick der höchsten Erregung klammert man sich an die letzten Äste, die
letzten Riffe, die äußersten Algen der Wirklichkeit. Ehe man jeden Halt verliert
und sanft in den Höllenschlund hinabsinkt, zieht der Knoten der Umschlingung
sich enger, die Hände verkrampfen sich, das Haar entweht, Geplätscher der Stimmen!
Stille der Gebärden, die durchs Leere fahren. Die Gegenstände verschwimmen in
einer trüben Luft; Wundergebilde tauchen auf. Das Gesicht überzieht sich mit
Phosphorglanz, und einem Brausen ausgeliefert, das die Seele auf den Ton der
Stürme stimmt, die von den äußersten Enden des Himmels kommen, vereint der Leib
sich dem Geheimnis der glühenden Laven, die ächzend aus der Erde quellen. - Marcel Jouhandeau, Elise. Reinbek bei Hamburg
1968 (zuerst 1933 ff.)
Wollust (11)
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