Wolfshunger  Die Friedensrichter saßen auf der kleinen Ottomane und wartete darauf, daß der Vorsitzende mit seinem Schriftstück endlich fertig würde, um sich mit ihm gemeinsam zu Tisch zu begeben. Vor ihnen stand der Gerichtssekretär Schilin, ein kleines Männchen mit süßlichem Gesichtsausdruck, mit Backenbärtchen, die dicht an den Ohren begannen. Er lächelte honigsüß, schaute den Dicken an und sprach halblaut:

»Wir alle haben jetzt den Wunsch, zu speisen, denn wir sind erschöpft, und zudem geht es bereits auf vier Uhr, aber, Grigorij Sawwitsch, mein Seelchen, das ist noch nicht der wahre Appetit. Der wahre Appetit, der sogenannte Wolfshunger, mit dem man, wie es einem scheint, den eigenen Vater auffressen könnte, kommt nur nach körperlicher Bewegung, zum Beispiel nach einer Hetzjagd oder wenn man mit Gutspferden hundert Werst ohne Unterbrechung zurückgelegt hat. Auch hat die Phantasie hierbei viel zu bedeuten. Nehmen wir zum Beispiel an, daß Sie von so einer Jagd nach Hause zurückkehren und mit Appetit speisen wollen, in diesem Falle dürfen Sie niemals an etwas Gescheites denken; das Gescheite und Gelehrte nimmt einem immer den Appetit. Sie werden ja selber wissen, daß die Philosophen und Gelehrten hinsichtlich des Speisens die allerletzten Menschen sind und daß, verzeihen Sie bitte, selbst Schweine nicht schlechter essen als diese Leute. Wenn man also, wie gesagt, nach Hause fährt, muß man sich die größte Mühe geben, nur noch an das Fläschchen und an einen Imbiß zu denken. Ich zum Beispiel, ich fuhr einmal mit geschlossenen Augen und stellte mir ein Spanferkel mit Meerrettich vor, vor Appetit hätte ich damals fast einen hysterischen Anfall erlitten. Tja, und wenn Sie dann vor Ihr Haus kommen, dann gehört es sich, daß Ihnen um die gleiche Zeit aus der Küche ein Geruch entgegenschlägt, wissen Sie, so was in der Art...«

»Gebratene Gänse riechen ausgezeichnet«, sagte der ehrenamtliche Friedensrichter schwer atmend.

»Sagen Sie das nicht, mein Seelchen, Grigorij Sawwitsch, eine Ente oder eine Schnepfe können der Gans hierin zehn Augen vorgeben. Im Bukett der Gans gibt es nichts Zärtliches und Delikates. Am allerschärfsten aber riecht ein junges Zwiebelchen, wissen Sie, wenn es gerade zu braten anfängt und wenn es, verstehen Sie wohl, so zischt, daß man es durch das ganze Haus hört. Schön, Sie treten also ins Haus, der Tisch muß natürlich gedeckt sein, und wenn Sie Platz nehmen, müssen Sie sogleich die Serviette hinters Halstuch stecken und ohne Übereilung nach dem Schnapsfläschchen greifen. Den Schnaps jedoch, diese Gottesgabe, dürfen Sie nicht etwa in ein Gläschen gießen, sondern in irgendeinen vorsintflutlichen Silberbecher aus Großvatertagen oder in einen jener Dickbäuche mit der Aufschrift: ›Solch einen nehmen auch Mönche zu sich‹, und. dürfen beileibe nicht sofort trinken, sondern müssen zuvor einmal seufzen, sich die Hände reiben, gleichgültig die Zimmerdecke betrachten und erst darauf, wissen Sie, ganz langsam, das Schnäpschen an die Lippen führen - aber dann werden augenblicks von Ihrem Magen her Funken durch den ganzen Körper fahren...«

Ein seliger Ausdruck trat bei diesen Worten auf das weibische Gesicht des Sekretärs.

»Funken ...«, wiederholte er blinzelnd. »Sobald Sie getrunken haben, müssen Sie sofort etwas essen.«  - (tsch)

 

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