irklichkeit, arme   Den Fall einer nahezu unglaublich armen Wirklichkeit hat der Klassiker Jakob von Uexküll seinerzeit selbst beschrieben. Sein Beispiel war die Zecke. Das ist jene blutsaugende MilbeHolzbock«), die vor allem Hundehaltern, aber auch den Besitzern von Hühnern unliebsam bekannt ist.

Die Zecke hat einen recht komplizierten und auch risikoreichen Lebenslauf, vor dessen Gefahren sie allerdings durch ein entsprechendes Verhaltensrepertoire optimal geschützt wird. Das begattete Weibchen muß sich mit dem Blut eines Warmblüters vollsaugen können, weil nur dann ihre Eier ausreifen. Die Art und Weise, in der dieses für die Art zum Überleben notwendige Ziel erreicht wird, ist ebenso erstaunlich wie lehrreich.

Als erstes erklettert das winzige Tier einen Busch, um auf der Spitze eines kleinen Astes haltzumachen. Seinen Weg dorthin findet es mit Hilfe des Lichts. Es hat zwar keine Augen, sondern nur einen diffusen Lichtsinn der Haut — aber das genügt. An Ort und Stelle angelangt, tritt das Programm »Abwarten« in Aktion. Es kann nur durch ein einziges Signal abgebrochen werden: durch den Geruch von Buttersäure, wie ihn die Schweißdrüsen eines Warmblüters produzieren.

Die Zecke muß jetzt ausharren können, bis der Zufall ein warmblütiges Tier so exakt unter ihrem Warteplatz vorbeiziehen läßt, daß sie sich in dessen Fell herabfallen lassen kann. Zecken können in dieser Situation mindestens 18 Jahre lang warten. Vielleicht noch viel länger — bis zu 18 Jahren haben die Wissenschaftler es bisher kontrolliert. In dieser ganzen Zeit verharrt das Tier in absoluter Regungslosigkeit, Es nimmt keine Nahrung zu sich. Von all den unzähligen äußeren Geschehnissen und Reizen kommt kein einziger bei dem Tier an, »wirkt« kein einziger auf die Milbe ein.

Erst dann, wenn womöglich nach mehr als einem Jahrzehnt der Geruch von Buttersäure die Milbe erreicht (»wie ein Lichtsignal aus dem Dunkel«, schreibt Uexküll), erwacht sie aus ihrer Starre, um sich blitzschnell fallen zu lassen. Spürt sie im nächsten Augenblick Wärme, dann tastet sie, bis sie eine haarfreie Hautstelle findet, in die sie sich einbohrt. Damit hat ihr Lebenszweck sich erfüllt. Einige Zeit später fällt sie ab, legt ihre Eier und stirbt.

»Die ganze reiche, die Zecke umgebende Welt schnurrt zusammen und verwandelt sich in ein ärmliches Gebilde (von Uexküll), eben die »Wirklichkeit« des Tiers, die in diesem ganzen langen Zeitraum allenfalls den Eindruck »hell«, den Geruchsreiz der Buttersäure, die Empfindung »warm« und den Tasteindruck einer haarfreien Hautstelle enthält, eine Wirklichkeit, die mit anderen Worten also fast während der ganzen langen Zeit »leer« ist. - Hoimar von Ditfurth, Der Geist fiel nicht vom Himmel. Die Evolution unseres Bewußtseins. München 1980 (dtv 1587, zuerst 1976)

Wirklichkeit Holzbock, gemeiner (Zecke)
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