- Botho Strauß, Paare, Passanten.
München 1984 (dtv 10250, zuerst 1981)
Wir (2)
Wir, Johann Amadeus Adelgreif, Erheben unsern grimmen Löwenschweif Man sammle alle Blätter unserer Wälder |
- Hugo Ball, nach: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada. Eine literarische
Dokumentation. Reinbek bei Hamburg 1964
Wir
(3) Die Axolotl drängten sich auf dem schäbigen
und engen Boden (nur ich kann wissen, wie schäbig und eng) aus Stein und Moos
des Aquariums. Es waren neun Exemplare, und die meisten drückten den Kopf an
die Scheibe und betrachteten mit ihren Goldaugen alle, die sich näherten. Verwirrt,
beinah betreten empfand ich es als eine Art Schamlosigkeit, mich diesen stummen,
unbeweglichen Figuren auf dem Grund des Aquariums zu zeigen. Im Geiste sonderte
ich eine ab, die sich rechterhand und etwas abseits von den anderen befand,
um sie besser studieren zu können. Ich sah einen kleinen Körper, rosafarben
und wie lichtdurchlässig (ich dachte an die kleinen chinesischen Statuen aus
Mondstein), der dem einer kleinen Eidechse von fünfzehn Zentimeter Länge ähnelte
und in einem Fischschwanz von außerordentlicher Feinheit endete: dem empfindlichsten
Teil unseres Körpers. Über seinen Rücken lief eine durchsichtige Flosse, die
mit dem Schwanz verschmolz; was mich aber fast um den Verstand brachte, waren
diese Füße von größter Zartheit, die in winzigen Zehen endeten, in völlig menschlichen
Nägeln. Und dann entdeckte ich seine Augen, sein Gesicht. Ein ausdrucksloses
Gesicht, ohne andere Züge als die Augen, zwei Öffnungen wie Stecknadelköpfe,
ganz und gar aus durchsichtigem Gold, bar jeden Lebens, aber starrend, sich
von meinem Blick durchdringen lassend, der durch den goldenen Punkt hindurchzugehen
und sich in einem durchsichtigen Geheimnis weiter drinnen zu verlieren schien.
Ein sehr schmaler, schwarzer Hof umsäumte das Auge und zeichnete es in das rosige
Fleisch, in den rosigen Stein des Kopfes, der eine Art Dreieck, aber mit gekrümmten
und unregelmäßigen Seiten bildete, die ihm eine totale Ähnlichkeit mit einer
von der Zeit verwitterten Statuette verliehen. Der Mund war in der dreieckigen
Fläche des Gesichts fast nicht erkennbar, nur im Profil erriet man seine ansehnliche
Größe; von vorn ritzte ein feiner Spalt kaum den unbelebten Stein. An beiden
Seiten des Kopfes, wo die Ohren hätten sein müssen, wuchsen ihm drei rote Ästchen
wie von Korallen, ein pflanzlicher Auswuchs, vermutlich die Kiemen. Und das
war das einzige, was an ihm lebte, alle zehn oder fünfzehn Sekunden richteten
sich die kleinen Zweige starr und steif auf und senkten sich wieder. Zuweilen
bewegte sich unmerklich ein Fuß, ich sah, wie sich die winzigen Zehen ganz sanft
auf das Moos legten. Wir bewegen uns nämlich nur ungern viel, und das Aquarium
ist so eng, kaum kommen wir ein Stück vorwärts, stoßen wir an den Schwanz oder
den Kopf eines anderen von uns; daraus entstehen Schwierigkeiten, Hader, Ungemach.
Die Zeit wird weniger fühlbar, wenn wir uns ruhig verhalten. - Julio
Cortazar, Die Nacht auf dem Rücken. Die Erzählungen Bd. 1. Frankfurt am Main
1998
Wir
(4) Wir sind nur Hülle im Wind, Muskeln, die
sich gegen Sterblichkeit wehren. Wir sind Schläfer im Staub der Vorwürfe gegen
uns selbst. Bis zur Gurgel stecken wir voll von Namen, die wir unserem Elend
gegeben haben. Das Leben, der Weidegrund, wo Nacht sich nährt, Wiederkäuer eines
Futters, das uns würgt. Das Leben, die Erlaubnis, den Tod kennenzulernen. Wir
sind geschaffen, auf daß die Erde den Geschmack ihrer eigenen Unmenschlichkeit
zu schmecken bekomme; wir lieben, damit die Erde unter der Kostbarkeit des Körpers
brülle. Ja, wir, die wir bis an die Gurgel im Elend stecken, sollten uns gut
umsehen und alles Wahrgenommene, alles Getane und Gesprochene wägen. - Djuna Barnes,
Nachtgewächs. Frankfurt am Main 1981 (zuerst 1936)
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