illkür  Ich komme zurück auf die Szene mit dem Flugzeug in der Wüste.

 Willkür

Der Reiz dieser Szene besteht in ihrer Willkürlichkeit. Sie ist bar jeder Wahrscheinlichkeit und jeder Bedeutung. Wenn es so praktiziert wird, wird das Kino wirklich zu einer abstrakten Kunst, wie Musik. Und gerade diese Willkür, die man Ihnen häufig vorwirft, macht das Interesse und die Stärke dieser Szene aus. Ganz deutlich wird das im Dialog, wenn das Flugzeug am Horizont auftaucht und der Bauer, bevor er in den Bus steigt, sagt: »Dahinten kommt ein Insektenvernichtungsflugzeug, dabei gibt es hier doch gar keine Insekten zu vernichten.« Das Flugzeug bestäubt gar nichts. Und man sollte Ihren Filmen nie die Willkür zum Vorwurf machen, denn Sie glauben an die Religion der Willkür, Sie haben den Sinn für die Phantasie, die auf dem Absurden basiert.

Den Sinn für das Absurde praktiziere ich wie eine Religion.

Ein Einfall wie das Flugzeug in der Wüste entsteht nicht im Kopf eines Drehbuchschreibers, er bringt die Handlung nicht weiter, das ist der Einfall eines Regisseurs.

Auf den Einfall bin ich so gekommen. Ich wollte mich gegen die Schablone stellen. Ein Mann kommt an einen Ort, wo er wahrscheinlich umgebracht wird. Wie wird das im allgemeinen gemacht? Eine finstere Nacht an einer engen Kreuzung in einer Stadt. Das Opfer steht im Lichtkegel einer Laterne. Das Pflaster ist noch feucht vom letzten Regen. Großaufnahme einer schwarzen Katze, die eine Mauer entlangstreicht. Eine Einstellung von einem Fenster, hinter dem schemenhaft das Gesicht eines Mannes auftaucht, der nach draußen blickt. Langsam nähert sich eine schwarze Limousine, undsoweiter. Ich habe mich gefragt, was das genaue Gegenteil einer solchen Szene wäre. Eine völlig verlassene Ebene in hellem Sonnenschein, keine Musik, keine schwarze Katze, kein geheimnisvolles Gesicht hinterm Fenster.- Alfred Hitchcock, in: François Truffaut, Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1973 (zuerst 1966)

Willkür (2)  Noch zu North by Northwest und meiner Neigung zur Willkür. Ich will Ihnen eine Szene erzählen, an der ich gearbeitet habe, die ich aber nie unterbringen konnte. Immer wieder das Prinzip der Schweizer Schokolade und der holländischen Windmühlen. Mir fiel ein, daß wir nordwestlich von New York waren und über Detroit kommen mußten, wo die großen Fordwerke sind. Haben Sie schon einmal ein Fließband gesehen?

Nein, nie.

Das ist phantastisch. Ich wollte eine lange Dialogszene machen zwischen Cary Grant und einem Vorarbeiter am Fließband. Sie gehen und reden dabei über einen Dritten, der vielleicht in irgendeiner Beziehung zum Werk steht. Hinter ihnen wird ein Auto Stück um Stück zusammengesetzt, es wird aufgetankt und geschmiert, und als sie ihre Unterhaltung beendet haben, ist das Auto, das anfangs ein Nichts war, abfahrbereit, und sie sagen: »Ist das nicht toll?« Und dann machen sie eine der Autotüren auf, und heraus fällt eine Leiche!

Das ist eine irre Idee!

Woher kommt die Leiche? Aus dem Auto kaum, das war am Anfang nur eine Schraubenmutter. Die Leiche ist aus dem Nichts gefallen, verstehen Sie? Und wahrscheinlich ist es die Leiche des Mannes, über den die beiden sprachen.

Das ist die absolute Willkür. Es ist bestimmt schwierig, auf einen solchen Einfall zu verzichten. Haben Sie die Szene wegen ihrer Dauer aufgegeben?

Mit der Dauer wäre man schon irgendwie hingekommen, aber wir haben die Idee in der Geschichte nicht richtig unterbringen können. Und selbst eine willkürliche Szene kann man nicht ohne Motiv einführen. - François Truffaut, Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1973 (zuerst 1966)

Willkür (3)    Die Herrnhuther annihiliren ihre Vernunft. Die Empfindsamen ihren Verstand - die Leute von Verstand ihr Herz. Kein Act ist gewöhnlicher in uns - als der Annihilisationsact. Eben so gewöhnlich ist der Positionsact. Wir setzen und nehmen etwas willkührlich so an, weil wir es wollen - Nicht aus bewußten Eigensinn, denn hier wird wircklich mit Hinsicht auf unsern Willen etwas festgesezt, sondern aus instinktartigen Eigensinn, der ebenfalls in der Trägheit, so sonderbar es auch scheint, seinen Grund hat. Es ist ein äußerst bequemes Verfahren sich aller Mühe des Forschens zu überheben und allem Innern und äußern Streit und Zwiespalt ein Ende zu machen. Es ist eine Art von Zauberey, durch die wir die Welt umher nach unsrer Bequemlichkeit und Laune bestellen.

Beyde Handlungen sind verwandt und werden meistens zusammen angetroffen. Es entsteht aber dadurch lauter Mißklang und der Mensch, der auf diese Weise zu verfahren pflegt, befindet sich im Zustand der mehr oder minder ausgebildeten Wildheit.

Es giebt mancherley Arten von der vereinigten Sinnenwelt unabhängig zu werden.

1. durch Abstumpfung der Sinne. (Gewöhnung Erschöpfung, Abhärtung etc.)

2. durch zweckdienliche Anwendung, Mäßigung, und Abwechselung der Sinnenreitze. /Heilkunst./

3. durch Maximen a.) der Verachtung und b.) der Feindlichkeit gegen alle Empfindungen. Die Maxime der Verachtung äußrer Empfindungen war den Stoickern und ist zum Theil den Wilden von America eigen.

Die der innern Empfindungen der sogenannten] Leute von Verstand in der großen Welt und sonst. Die Maxime der Feindlichkeit gegen äußre und innre Empfindungen haben die strengen Anachoreten, Fakirs, Mönche, Büßer und Peiniger aller Zeit aufgestellt und oft und zum Theil befolgt. Manche sogenannte Bösewichter mögen diese Maxime wenigstens dunkel gehabt haben.

Beyde Maximen gehn leicht in einander über, und vermischen sich.

4. theilweise durch Aushebung gewisser Sinne oder gewisser Reitze, die durch Übung, und Maxime einen beständigen, überwiegenden Einfluß erhalten.

So hat man sich mittelst des Körpers von der Seele und umgekehrt, mittelst dieses oder jenes äußern oder innern Gegenstandes von der Einwirckung aller übrigen Gegenstände losgemacht. Dahin gehört Leidenschaft aller Art, Glauben und Zuversicht zu uns selbst, zu andern Personen und Dingen, zu Geistern etc. Vorurtheile und Meynungen befördern ebenfalls eine solche Theilfreyheit. So kann auch eine Unabhängigkeit von der wircklichen Sinnenwelt entstehn, indem man sich an die Zeichenwelt oder auch die vorgestellte Welt entweder gewöhnt, oder sie statt jener, als allein reitzend für sich festsezt. Das erste pflegt bey Gelehrten und sonst noch sehr häufig der Fall zu seyn - und beruht, nach dem, was oben gesagt wurde auf dem, gewöhnlich trägen, Behagen des Menschen am Willkührlichen, und Selbstgemachten und Festgesezten. Umgekehrt findet man Leute, die von der Vorstellungs und Zeichenwelt nichts wissen wollen; das  sind die rohsinnlichen Menschen, die alle Unabhängigkeit der Art für sich vernichten, und deren träge, plumpe, knechtische Gesinnung man in neuern Zeiten auch theilweise zum System erhoben hat - (Rousseau, Helvetius, auch Lokke, etc.) ein System, dessen Grundsatz zum Theil ziemlich allgemein Mode geworden ist.   - Novalis, Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen (entst. 1798)

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