iderspruch Mich treibt nicht nur der Wind der Zufälle nach seiner Richtung, sondern überdies schwanke ich und verwirre mich selber, weil ich so unsicher auf meinen Füßen stehe; und wer sich nur recht beobachtet, wird sich kaum zweimal in der gleichen Verfassung finden. Ich gebe meiner Seele bald dieses Gesicht und bald jenes, je nachdem, auf welche Seite ich sie wende.
Wenn ich auf ungleiche Weise von mir rede, so geschieht es, weil ich mich auf ungleiche Weise betrachte. Alle Widersprüche finden sich in mir, je nach Gesichtswinkel und Umständen: schamhaft und unverschämt; keusch und geil; geschwätzig und schweigsam; tatkräftig und zimperlich; geistreich und blöde; mürrisch und leutselig; lügnerisch und wahrhaftig; kenntnisreich und unwissend, freigebig und geizig und verschwenderisch, von alledem finde ich etwas in mir, je nachdem ich mich drehe; und wer immer sich recht aufmerksam prüft, wird in sich, ja sogar in seinem Urteile über sich selbst, diese Unstetigkeit und Unstimmigkeit vorfinden.
Ich habe von mir selbst nichts Ganzes,
Einheitliches und Festes, ohne Verworrenheit und in einem Gusse auszusagen.
Distinguo ist das erste und letzte Wort meiner Logik.
- (
mon
)
Widerspruch (2) Je genauer man diese Welt betrachtet, desto mehr Widersprüche und Inkonsequenzen entdeckt man in ihr. Um mit dem Großtürken zu beginnen: Er läßt alle Köpfe abschlagen, die ihm mißfallen, und kann kaum seinen eigenen retten. Kommen wir vom Großtürken zum Heiligen Vater. Er bestätigt die Wahl der Kaiser; Könige sind seine Vasallen, aber er ist nicht so mächtig wie ein Herzog von Savoyen. Er läßt Befehle für Amerika und Afrika ergehen, aber er könnte der Republik Lucca kein Privileg entziehen. Der Kaiser ist König der Römer, aber das Recht ihres Königs besteht darin, dem Papst den Steigbügel zu halten und ihm bei der Messe das Waschwasser zu reichen.
Die Engländer bedienen ihren Monarchen kniend,
aber sie setzen ihn ab, sperren ihn ein und schicken ihn aufs Schafott.
- Voltaire, Philosophisches Wörterbuch, nach (
vol
)
Widerspruch (3) Derzeit ist wieder
viel die Rede von der sogenannten Dialektik. Damit ist jene Methode Hegels
gemeint, die zugleich Denkverfahren und Bewegung
der Wirklichkeit zu sein vorgibt. In dieser Dialektik
gilt der Widerspruch, die Negation als das bewegende Prinzip. Jedes Ding
hat gleichsam seinen Widerspruch «an sich». Denn ein Ding ist etwas Bestimmtes,
und etwas Bestimmtes ist eben nicht ein Beliebiges. Wenn man sagt «dieses
Buch», dann schließt man das andere aus, was nicht dieses Buch ist. Namentlich
bei bestimmten Wörtern wie Vater und Sohn ist dieses eigentümliche «Mitsetzen»
seines Gegenteils der Fall. Beim Aussprechen des Wortes «Vater»
ist sein Gegenteil, oder zumindest sein Anderes, nämlich Sohn,
notwendig mitgedacht. Selbst ein Begriff wie «Identität»
ist nur sinnvoll, wenn man in ihm mitdenkt, daß er verschieden von der
Verschiedenheit ist. Der Widerspruch, so meint Hegel, muß darum
immer mitgedacht werden. - Willy Hochkeppel, Denken als Spiel.
München 1974 (dtv 965)
Widerspruch (4) Daß die in der libyschen
Wüste Ras-Sem häufig anzutreffenden in Stein gehauenen Menschen- und Tiergestalten
von den Arabern mit Grauen angesehen werden, weil sie solche für durch den Fluch
versteinerte Menschen halten, gehört zu Einbildungen der ersteren Gattung, nämlich
der zügellosen Einbildungskraft. - Daß aber, nach der Meinung derselben Araber,
diese Bildsäulen von Tieren, am Tage der allgemeinen Auferstehung, den Künstler
anschnarchen und ihm es verweisen werden, daß er sie gemacht und ihnen doch
keine Seele habe geben können, ist ein Widerspruch.
- Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Ansicht
Widerspruch (5) Er hegt einen Groll
gegen mich. Er scheint zu glauben, ich sei auch irgendwie an seinen Fehlschlägen
schuld. Ein Kabbalist erzählte mir, daß, wenn ein
Mann eine Frau vergewaltigt oder ihr gegen ihren Willen ein Kind gibt, er eine
Seele, die nicht auf die Welt gehört, vom Throne der
Herrlichkeit zerrt, und daß diese Seele in der Welt umherirrt wie im Chaos.
In den wenigen Unterhaltungen, die ich mit diesem Bill hatte, wiederholte er
immer ›Ich lebe nicht lange‹. Das hinderte ihn aber nicht, darauf anzuspielen,
ich möge ihn in meinem Testament bedenken. Er ist
aus Widersprüchen zusammengesetzt. Vielleicht ist das ganze Weltall ein einziger
Widerspruch. Gott selbst hat sich widersprochen und daraus enstand die Welt.
Was halten Sie von dieser Philosophie? -
Isaac Bashevis Singer, Ihr Sohn. In: I.B.S., Der
Kabbalist
vom East Broadway.
München 1978 (zuerst 1972)
Widerspruch (6) Den Satz des
Widerspruchs zu vernichten ist vielleicht die höchste Aufgabe der höhern Logik.
- Novalis,
Teplitzer Fragmente
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