estfale
Die
stolze Wilhelmina ließ mich holen. Sie war fast achtzig Jahre, eine
Frau von hellem Geist und würdiger Heiterkeit. Wilhelmina
saß am Fenster und schaute in den Oesinghauser Hof. »Ernst, ich will dieses
Jahr sterben, mein Schnarchen nachts gefällt mir
nicht mehr. Und dich habe ich nun als meinen Blutenkel
ausgesucht. Aber keine Bange, Junge, du brauchst das nicht anzunehmen, wenn
du es nicht willst.« Das sagte Wilhelmina zu mir, als ich bei ihr am Fenster
saß. Ich fragte sie: »Ahni, ein Blutenkel, was ist das?« Sie überlegte offensichtlich,
dann begab sie sich in ein längeres Wachträumen und wir saßen einige Zeit vor
dem Fenster und genossen unsere einträchtige Gelassenheit. Schließlich sagte
Wilhelmina: »Gemach, Junge, das hat eine Vorgeschichte. Am Tag deiner Geburt
habe ich dir aus Ruthchen herausgeholfen. Das war ich meiner Tochter schuldig.
Und es erwies sich als nützlich, daß ich aus einer Familie tüchtiger Hebammen
komme. Deine Urgroßmutter war eine Hebamme. Sie hätte sich nicht gescheut, dem
Teufel persönlich mit einer Stricknadel aus einem wahren Engel von Mädchen herauszuhelfen.
Der Teufel muß sein. Er gehört mitten unter uns. Denn Menschsein muß man üben.
Und am Teufel können wir üben. Nun damals, mit Ruthchen und dir, hatten wir
Glück, denn wenn ich nicht so beherzt zugepackt und Ruth das Schreien abgewöhnt
hätte, damit sie das Maul schlösse und kräftig mitarbeite, dann wäret ihr beide
längst unter dem Stein. So aber sprach ich über deinem Kopf einen schönen Reim:
›Werde ein Westfale, Kind, lausche hier dem Flötenwind.‹Das war mein erster
und letzter Reim und kam von selber. Denke nur nicht, ich hätte das irgendwo
aufgelesen und zitiert, nein, wir zitieren in unserer Familie nie, wir denken
selber. Um nun bei der Wahrheit zu bleiben: Flötenwind, das war ein Wort aus
der Gefühlswelt deiner Urgroßmutter, der Hebamme. Sie hieß Katarin und war eine
stolze Frau mit allerlei verschwiegenen bukolischen Gefühlen, aber im Beruf
präsumptuös, diese Katarin. Und wenn sie nun ihre bukolischen Gefühle, die sie
keinem zeigte, dennoch zeigen wollte, dann hatte sie so helle anmutsstarke Wörter
und eines davon war Flötenwasser und Flötenwind, daran kann ich mich von Herzen
gut erinnern. Flötenwasser, Ernst, das war ein hohes Glas mit sehr heißem Wasser
und mit drei Eßlöffeln weißem Zucker. Wenn einer Kopfschmerzen bis zum Speien
hatte, dann gab die Katarin ihm so ein Zuckerwasser und sagte: ›Trink das jetzt
sehr heiß und in kleinen Schlucken. Es ist Flötenwasser. Es löst selbst einen
Kopfschmerz aus Stein, trinks langsam und nachher kannst du flöten vor Erleichterung‹.
Flötenwind hingegen war etwas, das ging über Kopfschmerzen weit hinaus, das
war ein weites Stück Natur, wie Katarin es verstand. Wenn in den Birken der
Abendwind aufbrauste und dann wieder wegrollte in schönen rollenden Wellen und
wenn er dann wieder heranwogte und wieder im Blätterwerk der Birken so leise
aufbrauste, dann sagte deine Urgroßmutter zu mir: ›Da draußen, wilde Wilhelmina,
das ist er, der Flötenwind.‹ Der Flötenwind ist von der Katarin, aber der Reim,
mit dem ich dich am Tag deiner Geburt besprochen
habe, der Reim ist von mir.« - (
kap
)
Westfale (2)
- Abraham a Santa Clara, Judas der Ertz-Schelm (zuerst 1686, Auswahl
Darmstadt 1968)