Westen    »Das Wissen, ja... Es bleibt eben noch der Wissensdrang. Der Wissensdrang, das ist eine seltsame Sache ... Es gibt nur sehr wenige Leute, die ihn besitzen, selbst unter den Forschern; die meisten begnügen sich damit, Karriere zu machen, und geben sich bald nur noch mit Verwaltungsarbeit ab; dabei spielt das für die Geschichte der Menschheit eine unglaublich große Rolle. Man könnte sich eine Fabel ausdenken, in der eine ganz kleine Gruppe von Leuten - höchstens ein paar hundert Menschen auf dem ganzen Erdball - mit verbissener Hartnäckigkeit eine sehr schwierige, sehr abstrakte, dem Nichteingeweihten völlig unverständliche Tätigkeit verrichten. Diese Menschen bleiben der übrigen Bevölkerung für immer unbekannt; sie gelangen weder zu Macht noch zu Reichtum und werden nicht einmal mit Ehren überhäuft; niemand ist überhaupt in der Lage, das Vergnügen zu begreifen, das ihnen ihre Tätigkeit bereitet. Und doch sind sie die wichtigste Macht der Welt, und zwar aus einem einfachen Grund, einem ganz einfachen Grund: Sie haben die Schlüssel zur rationalen Gewißheit in der Hand. Alles, was sie als wahr erklären, wird früher oder später von der gesamten Bevölkerung als wahr anerkannt. Keine wirtschaftliche, politische, soziale oder religiöse Macht ist in der Lage, sich der offenkundigen rationalen Gewißheit zu widersetzen. Gewiß hat sich die westliche Welt über alle Maßen für Philosophie und Politik interessiert und sich in geradezu unsinniger Weise um philosophische und politische Fragen gestritten; gewiß hat die westliche Welt auch eine wahre Leidenschaft für Literatur und Kunst entwickelt; aber nichts in ihrer ganzen Geschichte hat eine solche Bedeutung gehabt wie das Bedürfnis nach rationaler Gewißheit. Diesem Bedürfnis nach rationaler Gewißheit hat die westliche Welt schließlich alles geopfert: ihre Religion, ihr Glück, ihre Hoffnungen und letztlich ihr Leben. Das ist etwas, was man nicht vergessen darf, wenn man ein Gesamturteil über die westliche Zivilisation abgeben will.«   - Michel Houellebecq, Elementarteilchen. München 2001 (zuerst 1998)
 

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