eltschrei  Es war, als ob ein Sturmwind Minotauren und Mädchen durcheinandergeblasen hätte, so wirbelten sie auseinander, durcheinander und einander entgegen, und als ihm das Mädchen in die Arme lief, als er mit einem Male den Leib fühlte, das warme, schweißgebadete Fleisch, und nicht das harte Glas, das er bis jetzt gefühlt hatte, begriff er — insofern man beim Minotaurus von Begreifen reden kann —, daß er bis jetzt in einer Welt gelebt hatte, in der es nur Minotauren gab, jeder eingeschlossen in ein gläsernes Gefängnis, und nun fühlte er einen anderen Leib, fühlte anderes Fleisch. Das Mädchen entwand sich ihm, er ließ es geschehen. Es wich zurück, die großen Augen auf ihn gerichtet, und als er zu tanzen begann, begann das Mädchen zu tanzen, und die Spiegelbilder der beiden tanzten mit. Er tanzte seine Ungestalt, es tanzte seine Schönheit, er tanzte seine Freude, es gefunden zu haben, es tanzte seine Furcht, von ihm gefunden worden zu sein, er tanzte seine Erlösung, und es tanzte sein Schicksal, er tanzte seine Gier, und es tanzte seine Neugier, er tanzte sein Herandrängen, und es tanzte sein Abdrängen, er tanzte sein Eindringen, es tanzte sein Umschlingen. Sie tanzten, und ihre Spiegelbilder tanzten, und er wußte nicht, daß er das Mädchen nahm, er konnte auch nicht wissen, daß er es tötete, wußte er doch nicht, was Leben war und was Tod. In ihm war nichts als ein ungestümes Glück, eins mit einer ungestümen Lust. Er brüllte auf, als er das Mädchen nahm, und in den Spiegeln nahmen Minotauren Mädchen, und das Brüllen war ein ungeheuerlicher Schrei, ein unwirklicher Weltschrei, als wäre nichts als dieser Schrei, der sich mit dem Schrei des Mädchens vermischte, und dann lag er da, und in den Spiegeln lagen Minotauren da, und der weiße nackte Leib des Mädchens mit den großen schwarzen Augen lag da und spiegelte sich in den Wänden. Er hob den linken Arm des Mädchens, er fiel herunter, den rechten, er fiel herunter, überall fielen Arme herunter. Er leckte es mit seiner bläulichroten Riesenzunge, das Gesicht, die Brüste, das Mädchen blieb unbeweglich, alle Mädchen blieben unbeweglich. Er wälzte es mit den Hörnern herum, das Mädchen rührte sich nicht, kein Mädchen rührte sich. Er erhob sich, sah sich um, überall standen Minotauren und schauten sich um, und überall lagen zu ihren Füßen weiße Mädchenleiber. Er bückte sich, hob das Mädchen auf, brüllte, klagte, hob das Mädchen dem dunklen Himmel entgegen, und überall bückten sich Minotauren, hoben Mädchen auf brüllten, klagten, hoben Mädchen dem dunklen Himmel entgegen, und dann legte er das Mädchen zwischen die gläsernen Wände, legte sich zu ihm und schlief ein, und mit ihm alle Minotauren, hingestreckt auf dem Boden voller weißer nackter Mädchenleiber. Er schlief und träumte vom Mädchen mit den schwarzen Haaren und den großen Augen, jagte ihm nach, spielte mit ihm, riß es an sich, liebte es, und als er die Augen öffnete, war auf seiner Brust etwas in seinem verkrusteten Bart verkrallt. - Friedrich Dürrenmatt, Minotaurus. Eine Ballade. Zürich 1985
 
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