Wein, göttlicher  Die Großmutter besaß einen ausgezeichneten Barolo aus privatem Anbau. Beide tranken davon, bis sie sternhagelvoll waren. Bei der Großmutter mußte das eine Gewohnheit sein. Im übrigen konnte man einem guten Barolo, einem wirklich guten, kaum widerstehen. Am Ende wurde als krönender Abschluß auch eine Flasche "xxx" hervorgeholt, ein völlig unbekannter Wein, der, obwohl er zu keinem besonderen Jahrgang gehörte und alles andere als erlesen war, ungefähr dreißig- bis vierzigtausend Lire pro Flasche gekostet hätte, wenn er zum Verkauf angeboten worden wäre. Er wuchs nämlich nur an einem Hügel auf dem Grundstück der Großmutter; und sein Name war nur innerhalb der Familie und in den wenigen Häusern der Bauern bekannt, die ihn herstellten (außer einer Gruppe privilegierter Freunde in Turin). Er hatte nichts Besonderes an sich, doch war er offenbar göttlich, und zwar auf Grund seiner absoluten Reinheit; und auch wegen des greisgrauen Alters seiner Qualität, die sich so kindlich frisch über Jahrhunderte hin erhalten hatte und vollkommen 'ingenuum' praktisch bis ans Ende eines Menschenalters gelangt war. Seine bescheidene, jedoch außerordentlich raffinierte Faszination lag in dem Umstand, daß er weder trocken noch lieblich war, so als hätte diese Unterscheidung vormals keine Bedeutung gehabt: es war Wein schlechthin und nicht einmal besonders stark, so wie man ihn in früheren Zeiten mochte. Die Trunkenheit der Großmutter äußerte sich auf sehr merkwürdige Weise. Wenn man Carlos Eindrücke vorwegnehmen sollte, könnte man sagen, daß darin eine rätselhafte, weil nicht mehr zu beurteilende Vergangenheit zum Ausdruck kam. Einerseits enthüllte sie sich als grobschlächtige Bäuerin, als Landbesitzerin, plump und ungeschliffen wie ihre Tagelöhner, ohne jedes Interesse für irgendeine Form der Realität, mit der ihr gesellschaftliches Privileg sie konfrontierte. Vielleicht war sie eine Nutte gewesen, eine von jenen Kokotten, die sich die Landbesitzer zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts - damit einer Tradition des voraufgegangenen Jahrhunderts folgend und großen Anstoß erregend - aus der Stadt holten und dann in den festgefügten Famihenverband eingliederten (sie erwiesen sich als hervorragende Verwalterinnen von ausgeglichen konservativer Haltung). Die Trunkenheit kehrte bei ihr vielleicht diese Herkunft hervor. Sie saß breitbeinig auf dem Ledersofa, in ihrer Hand ein Glas "xxx", nachdem sie ungeschliffen über nichts geplaudert hatte, so wie man vor fünfzig Jahren hätte plaudern können, damals noch im Rahmen einer Zeit, die jetzt zu Ende ging mit ihren nun jetzt unbrauchbar gewordenen und nur noch zum Zitieren geeigneten Kodizes. Und nun begann sie plötzlich, über Shakespeares Sonette zu sprechen. Was sie im Dunkel ihrer Trunkenheit so eigensinnig interessierte, war eine Gartenfrage. Wie eine Fliege im Spinnennetz, konnte sie sich nicht davon frei machen. Nachdem sie eine Bemerkung gemacht hatte, starrte sie Carlo einen Augenblick lang fragend an, wobei sich ihre Lippen nervös bewegten und ihre Augen mit einem verzweifelten, leicht blöden Lächeln hin und her schweiften, und dann, ohne irgendeinen Kommentar ihres Gesprächspartners abzuwarten, an den sie sich so lauttönend gewandt hatte (und von dem sie sich gewiß nichts erwartete), schlug sie mit ihrem Kopf wieder gegen die Mauer ihrer Gartenfrage.   - Pier Paolo Pasolini, Petrolio. Berlin 1994
 
 

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