Waran  Ich sehe eine Eidechse in der Bibliothek, eine fast weiße Eidechse. Vielleicht ein Waran. Nein, es gibt keinen weißen Waran. Ist das sicher? Die in der Wüste schon ziemlich farblos. Und was sollte er hier machen? Ich kann nicht daran glauben. Suchen wir nicht weiter. Es gibt keinen Waran in meinem Zimmer. Man kann tausend gegen eins wetten, daß es keinen hier gibt. Und doch ... Jedesmal wenn ich die Augenlider hebe, ist er da, er existiert, und erst in den folgenden fünf oder zehn Sekunden kann ich ihm das »Nein« der Kritik und der Vernunft auferlegen, und auch nur mit halbem Erfolg.

Es kann keine Eidechse sein. Wie wäre sie hierhergekommen, so hoch herauf? Ich hätte sie gesehen, gehört. Im Halbdunkel kann ich nichts mit absoluter Sicherheit ausmachen, und ich will nicht aufstehen, mich nicht anstrengen, mich nicht ermüden, eine Aufmerksamkeit, die anderswo wertvoller ist, nicht in Bewegungen verzetteln. Und wozu auch? Keinerlei Umstand verleiht der Möglichkeit Gewicht, daß diese Eidechse eine echte Eidechse ist. Sie kann nur falsch sein. Blicken wir anderswohin. Immerhin, sobald ich die Blicke in diese Richtung lenke, verfehlt sie nicht, mich von neuem mit ihren kleinen kalten Augen anzusehen. Das ist nicht eigentlich eine Halluzination, die Dosis Meskalin war zu schwach dazu, sondern es ist, unaufhörlich wiederauftauchend, die Erscheinung einer Echse, deren Existenz ich nicht weniger unaufhörlich in den darauf folgenden Sekunden ableugne, um sie ein paar Augenblicke später wiederzufinden, die Wiedergekommene, unzweifelhaft eine Eidechse, und ich muß Beweise führen gegen ihre Existenz, ich muß vernünfteln, zehn-, zwanzig-, dreißigmai, bis ich nicht mehr kann... Zu ärgerlich. Ich stehe auf... Und hätte sie auch nur die allerwinzigste Chance, echt zu sein, ich kann keine Eidechse in meinem Zimmer beherbergen, wo ich allein und aufgeregt bin .. .

Die Eidechse war nur ein Stück zerknittertes Zeitungspapier. Ich nehme es weg, weiß aber, daß sie nicht verfehlen wird, trotz allem wieder zu erscheinen, trotz meines besseren Wissens, trotz des erbrachten Beweises.

Ich fühle etwas Unangenehmes auf mich zukommen. Was?   - Henri Michaux, Turbulenz im Unendlichen. Die Wirkungen des Meskalins. Frankfurt am Main 1971

 

Reptil

 

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