anderschaft
Als ich, erschüttert durch die vollendete Tatsache, meine Mutter
fragte: »Wie konntest du das tun! Wenn es wenigstens Genia getan hätte,
aber du selber.. .« weinte sie, rang die Hände und vermochte keine Antwort
darauf zu geben. Ob sie dachte, daß es für den Vater so besser sein würde,
ob sie darin den einzigen Ausweg aus seiner hoffnungslosen Situation erblickte
oder ob sie einfach unbegreiflich leichtsinnig und gedankenlos gehandelt
hatte? Das Fatum findet tausenderlei Ausflüchte, wenn es darum geht, seinen
unbegreiflichen Willen durchzusetzen. Irgendeine kleine, momentane Trübung
unseres Verstandes, ein Augenblick Verblendung oder Unvorsicht genügt,
um eine Tat zwischen der Scylla und Charybdis unserer Entschlüsse hindurchzuschmuggeln.
Dann kann man sie ex post endlos interpretieren und die Motive deuten —
aber die vollzogene Tatsache bleibt unwiderruflich und ein für allemal
entschieden.
Wir kamen erst zu uns und wurden erst aus unserer Verblendung aufgerüttelt, als mein Vater auf einer Schüssel hereingetragen wurde. Er lag groß und aufgequollen infolge des Kochens, blaßgrau und gallertartig da. Wir saßen schweigend wie Vergiftete herum. Nur Onkel Karol langte mit der Gabel in die Schüssel, ließ sie aber unsicher auf halbem Weg sinken und schaute uns verwundert an. Meine Mutter befahl, die Schüssel in den Salon zu stellen. Dort lag er auf dem mit einer Plüschdecke bedeckten Tisch neben dem Photoalbum und einem mechanischen Leierkasten mit Zigaretten: von uns gemieden und regungslos.
Aber damit sollte die irdische Wanderschaft meines Vaters noch nicht
zu Ende sein; und diese Fortsetzung, diese Verlängerung der Geschichte
über die anscheinend endgültigen und zulässigen Grenzen hinaus ist ihr
schmerzlichster Punkt. Warum gab er nicht endlich das Spiel verloren, warum
bekannte er sich am Ende nicht als gestorben, zumal er wahrhaftig schon
allen Grund dazu hatte und das Schicksal in seiner völligen Vernichtung
nicht mehr weitergehen konnte? Nach einigen Wochen regungslosen Liegens
konsolidierte er sich gleichsam in sich selber und schien sozusagen wieder
langsam zu sich zu kommen. Eines schönen Morgens fanden wir die Schüssel
leer. Nur ein Bein lag am Rand des Tellers, das er in der erkalteten Tomatensauce
und in der von seiner Flucht zerstampften Gallerte verloren hatte. Gekocht,
die Beine unterwegs verlierend, schleppte er sich mit den Resten seiner
Kräfte weiter auf eine heimatlose Wanderschaft — und wir bekamen ihn nie
mehr zu Gesicht. -
Bruno Schulz, Die letzte Flucht des Vaters. In: B. S., Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen.
München 1966
Wanderschaft (2)
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