Wanderfalke  Ein Vogel, der auf dem Mast Zuflucht gesucht, hatte sich am Fall mit den Füßen in losem Takelgarn verfangen und mühte sich, hoch dort droben, frei zu werden. Der Junge auf dem Deck konnte sehen, wie er mit den Flügeln schlug und den Kopf hin und her warf.

Durch seine eigenen Erfahrungen im Leben war er zu der Überzeugung gelangt, daß in dieser Welt jeder für sich selber sorgen muß und keine Hilfe von anderen zu erwarten hat. Aber der stumme Kampf auf Leben und Tod hielt ihn mehr als eine Stunde lang gebannt. Er fragte sich, was für eine Art Vogel das wohl war. In den letzten Tagen hatten vielerlei Vögel im Takelwerk der Bark gerastet: Schwalben, Wachteln und ein Paar Wanderfalken; er glaubte, daß der Vogel dort droben auch ein Wanderfalke war. Es fiel ihm ein, wie er einmal vor vielen Jahren, in seinem Heimatlande und nahe seinem Elternhaus, einen Wanderfalken ganz aus der Nähe gesehen hatte. Er saß auf einem Stein und flog dann senkrecht von ihm auf. Vielleicht war dies derselbe Vogel. Er dachte: » Dieser Vogel ist wie ich. Damals war er dort, und jetzt ist er hier.«

Bei diesem Gedanken erwachte ein Gefühl der Kameradschaft in ihm, ein Empfinden gemeinsamen Unglücks; er stand da und schaute zu dem Vogel hinauf, und das Herz schlug ihm im Halse. Keiner von den anderen Matrosen war in der Nähe und hätte ihn auslachen können; er begann zu überlegen, wie er am besten die Wanten hinaufklettern könnte, um den Falken zu befreien. Er strich sich die Haare aus der Stirn und krempelte die Ärmel hoch, warf einen langen Blick auf das Deck ringsum und kletterte hinauf. In der schwankenden Takelage mußte er etliche Male innehalten und einen festen Halt suchen.

Als er den Topp des Mastes erreicht hatte, stellte er fest, daß es wirklich ein Wanderfalke war. Als sein Kopf mit dem des Falken auf gleicher Höhe war, gab der Vogel seinen Kampf auf und starrte ihn aus einem Paar zorniger, verzweifelter gelber Augen an. Er mußte ihn mit der einen Hand festhalten, während er sein Messer herausholte und das Tau durchschnitt. Es wurde ihm bang, als er hinuntersah, doch zugleich fühlte er, daß er von niemandem heraufkommandiert worden war, sondern aus freien Stücken hier war, und dieses Bewußtsein flößte ihm ein stolzes, stetigendes Gefühl ein, als wären das Meer und der Himmel, das Schiff, der Vogel und er selber alle eins. Kaum hatte er den Falken befreit, hackte ihn dieser in den Daumen, daß Blut floß und er ihn fast losgelassen hätte. Er wurde wütend auf ihn und versetzte ihm einen Schlag auf den Kopf, dann steckte er ihn in seine Jacke und kletterte wieder hinunter.  - Tania Blixen, Wintergeschichten, Reinbek bei Hamburg 1989

 

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