Wahrtraum  Später beschrieb ich mir das Geschehen als Traum, wie ich zu tun gewohnt war, doch diesmal sollte ich dessen nie ganz sicher werden: gleich am ersten Abend war ich - im Traum, sagte ich mir —, spät in der Dunkelheit ankommend, im Hausflur, wo kein Licht brannte, als ich mich vorsichtig zum ersten Treppenabsatz hintastete, auf einen Gegenstand getreten, auf einen dick geschwollenen Gegenstand, der unter meinem Schritt hörbar zerplatzt war. Augenblicklich stieg eine Welle von Gestank auf, der Boden war auf einmal glitschig, der Gestank war so fürchterlich, daß ich, die Luft anhaltend, in Panik die Treppe hinaufstürzte und erst wieder atmete, als die Tür zur Wohnung meines Freundes hinter mir zuschlug. Im Traum war ich überzeugt, in der Finsternis auf eine tote Ratte getreten zu sein, auf den prallen Leib einer ersoffenen Wasserratte, sagte ich mir mit Eiseskälte im Traum ... als ich am Morgen aufwachte, erreichte mich die befreiende Erinnerung: ich war ja schon tagsüber angekommen, der Freund hatte mich schon vom Fenster der ersten Etage herab begrüßt, gleich darauf standen wir in dem sonnendurchstrahlten Hausflur, und ich bewunderte die schön bemalten Porzellanfliesen, mit denen die Wände bis zur Höhe der Geländerbrüstung ausgelegt waren. Nach dem Traum jedoch wollte mir das Frühstück nicht schmecken, wenn ich an den stinkenden Knall dachte, der mir noch in den Ohren lag. Schließlich trat ich kopfschüttelnd ins Treppenhaus und spähte über das Geländer hinab. Wer beschreibt mein Entsetzen, als ich sah, daß ich nicht geträumt hatte, oder daß ich die Wahrheit geträumt hatte: unten im Flur lag tatsächlich der aufgerissene Kadaver einer riesigen Ratte, die mich mit weit aufgesperrtem Rachen anstarrte, als habe sie soeben einen klagenden Schrei ausgestoßen . . . und als habe mich dieser Schrei hinausgerufen, schienen sich unsere Blicke einen Moment lang voller Haß ineinander zu senken.   - Wolfgang Hilbig, Alte Abdeckerei. Frankfurt am Main 1991

Wahrtraum (2)  Es gibt, wie Rabbi Jochanan im Buche der Senatoren sagt, vier Gattungen wahrer Träume: Erstens der Morgentraum, der zwischen dem Schlaf und dem Erwachen stattfindet; zweitens ein Traum, den einer von einem anderen hat; drittens ein Traum, dessen Auslegung im nächtlichen Gesichte selbst dem Träumer gezeigt wird, und viertens, wenn jemand wiederholt von etwas träumt, nach den Worten, die Joseph zu Pharao sagte: Daß dem Pharao zum andernmal geträumet hat, bedeutet, daß solches Gott gewißlich und eilend tun wird. - (nett)

Wahrtraum (3)   Bei Somnambulen jeder Art ist durchaus nicht von sinnlichen Wahrnehmungen im eigentlichen Verstande des Wortes die Rede; sondern ihr Wahrnehmen ist ein unmittelbares Wahrträumen, geschieht also durch das so räthselhafte Traumorgan. Daß die wahrzunehmenden Gegenstände an ihre Stirn, oder auf ihre Magengrube gelegt werden, oder daß, in den erwähnten einzelnen Fällen, die Somnambule ihre ausgespreitzten Fingerspitzen auf dieselben richtet, ist bloß ein Mittel, das Traumorgan auf diese Gegenstände, durch den Kontakt mit ihnen, hinzulenken, damit sie das Thema seines Wahrträumens werden, also geschieht bloß, um ihre Aufmerksamkeit entschieden darauf hinzulenken, oder, in der Kunstsprache, sie mit diesen Objekten in näheren Rapport zu setzen, worauf sie eben diese Objekte träumt, und zwar nicht bloß ihre Sichtbarkeit, sondern auch das Hörbare, die Sprache, ja den Geruch derselben: denn viele Hellsehende sagen aus, daß alle ihre Sinne auf die Magengrube versetzt sind. Es ist folglich dem Gebrauche der Hände beim Magnetisiren analog, als welche nicht eigentlich physisch einwirken; sondern der Wille des Magnetiseurs ist das Wirkende: aber eben dieser erhält durch die Anwendung der Hände seine Richtung und Entschiedenheit. Denn zum Verstandniß der ganzen Einwirkung des Magnetiseurs, durch allerlei Gesten, mit und ohne Berührung, selbst aus der Ferne und durch Scheidewände, kann nur die aus meiner Philosophie geschöpfte Einsicht führen, daß der Leib mit dem Willen völlig identisch, nämlich nichts Anderes ist, als das im Gehirn entstehende Bild des Willens. Daß das Sehn der Somnambulen kein Sehn in unserm Sinne, kein durch Licht physisch vermitteltes ist, folgt schon daraus, daß es, wenn zum Hellsehn gesteigert, durch Mauern nicht gehindert wird, ja bisweilen in ferne Länder reicht. Eine besondere Erläuterung zu demselben liefert uns die bei den höhern Graden des Hellsehns eintretende Selbstanschauung nach innen, vermöge welcher solche Somnambulen alle Theile ihres eigenen Organismus deutlich und genau wahrnehmen, obgleich hier, sowohl wegen Abwesenheit alles Lichtes, als wegen der, zwischen dem angeschauten Theile und dem Gehirne liegenden vielen Scheidewände, alle Bedingungen zum physischen Sehn gänzlich fehlen. Hieraus nämlich können wir abnehmen, welcher Art alle somnambule Wahrnehmung, also auch die nach außen und in die Ferne gerichtete, und sonach überhaupt alle Anschauung mittelst des Traumorgans sei, mithin alles somnambule Sehn äußerer Gegenstände, auch alles Träumen, alle Visionen im Wachen, das zweite Gesicht, die lebhafte Erscheinung Abwesender, namentlich Sterbender u. s. w. Denn das erwähnte Schauen der innern Theile des eigenen Leibes entsteht offenbar nur durch eine Einwirkung von innen, wahrscheinlich unter Vermittlung des Gangliensystems auf das Gehirn, welches nun, seiner Natur getreu, diese innern Eindrücke eben so wie die ihm von außen kommenden verarbeitet, gleichsam einen fremden Stoff in seine Ihm selbst eigenen und gewohnten Formen gießend.  - Schopenhauer, Versuch über Geistersehn und was damit zusammenhängt, nach (schop)

Wahrtraum (4)

Wahrtraum (5)  Messalina und Narzissus hatten beschlossen, Appius Silanus zu verderben, und die Rollen zu diesem Zweck so verteilt: Narzissus stürzte vor Tagesanbruch ganz verstört in Claudius' Schlafzimmer mit der Nachricht, er habe geträumt, Appius habe diesen ermordet. Messalina dagegen erzählte mit verstelltem Erstaunen, auch sie habe schon seit einigen Nächten denselben Traum gehabt. Bald darauf kam, wie gleichfalls abgekartet war, die Meldung, Appius eile herbei - es war ihm nämlich tags zuvor bestellt worden, sich um diese Zeit Im Palast einzufinden. Da dies als sichere Bestätigung des Traums angesehen wurde, erteilte man sofort den Befehl, ihn zu verhaften und hinzurichten. Ja, Claudius nahm keinen Anstand, tags darauf den ganzen Hergang dem Senat vorzutragen und seinem Freigelassenen Dank abzustatten dafür, daß er selbst im Schlaf für seine Sicherheit wache.  - (sue)

Wahrtraum (6)  Auch noch des Polykrates Tochter hatte ein Traumgesicht: Ihr schien, der Vater schwebe hoch in der Luft und werde gebadet von Zeus und gesalbt von der Sonne. Weil sie dieses Gesicht gesehen, wandte sie alles auf, daß Polykrates nicht zu Oroites reiste, ja als er schon an Bord des Fünfzigruderers ging, rief sie ihm ahnungsvolle Worte nach. Er aber drohte ihr, käme er gesund zurück, sollte sie lange warten mit der Heirat. Und sie betete darum, daß es so komme; wolle sie doch lieber lange unverheiratet bleiben als den Vater verlieren.

Aber Polykrates mißachtete jeden guten Rat und fuhr zu Oroites, und hatte bei sich viele seiner Genossen, und darunter auch Demokedes, Kalliphons Sohn, aus Kroton, der ein Arzt war und diese Kunst geschickter betrieb als alle seiner Zeit. Aber als Polykrates nach Magnesia kam, fand er ein schmähliches Ende, unwürdig des Mannes und seiner stolzen Gedanken. Denn außer den Tyrannen von Syrakus ist nicht einer von den ändern griechischen Herren wert, mit Polykrates verglichen zu werden an Großzügigkeit und Glanz. Und als Oroites ihn eines Todes hatte sterben lassen, den ich nicht erzählen mag, hängte er ihn ans Kreuz. Aus seinem Gefolge aber ließ er die Samier gehen und verlangte, sie sollten ihm Dank wissen, daß sie nun freie Leute seien, alle Fremden aber und Diener aus dem Gefolge erklärte er zu Sklaven und behielt sie. Polykrates aber, da er am Kreuz hing, erfüllte alles, was seine Tochter gesehen; denn er wurde gebadet von Zeus, wenn es regnete, gesalbt von der Sonne, indem aus seinem eignen Leib der Saft austrat. - (hero)

 

Traum

 

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