ahrheitsfindung  »Ruft den ersten Zeugen«, sagte der König; und das Weiße Kaninchen stieß dreimal in seine Fanfare und rief: »Erster Zeuge!«

Es war der Hutmacher. Er kam herein mit einer Teetasse in der einen Hand und einem Stück Butterbrot in der anderen. »Ihr entschuldigt schon, Euer Majestät«, fing er an, »daß ich das alles mitbringe, aber ich war gerade noch beim Teetrinken, als die Vorladung kam.« »Du hättest damit schon längst fertig sein sollen«, sagte der König. »Wann hast du denn angefangen?« Der Hutmacher drehte sich nach dem Schnapphasen um, der Arm in Arm mit der Haselmaus hinter ihm eingetreten war.  »Am vierzehnten März - ich glaube wenigstens -«, sagte er.

»Am fünfzehnten«, sagte der Schnapphase.

»Am sechzehnten«, sagte die Haselmaus.

»Schreibt euch das auf«, sagte der König zu den Schöffen, und die schrieben eifrig alle drei Daten auf ihre Tafeln, zählten sie zusammen  und rechneten sie in Pfund und Zentner um.

»Nimm deinen Hut ab«, sagte der König zum Hutmacher.

»Es ist nicht mein Hut«, sagte der Hutmacher. »Gestohlen!«rief der König aus und wandte sich dabei zu den Schöffen um, die sich diesen Umstand sogleich notierten. »Ich habe Hüte nur zum Verkaufen«, fügte der Hutmacher erklärend hinzu; »ich habe keine eigenen. Ich bin Hutmacher. «

Bei diesen Worten setzte die Königin ihre Brille auf und sah den Hutmacher unverwandt an, der unter ihrem Blick erbleichte und nicht mehr stillhalten konnte.

»Mach deine Aussage«, sagte der König, »und sei nicht so zappelig, oder du wirst auf der Stelle hingerichtet.« Dies schien den Zeugen keineswegs zu beruhigen; er sah verstört zur Königin hinüber, trat von einem Bein aufs andere und kam so durcheinander, daß er ein Stück von der Teetasse statt von dem Butterbrot abbiß. Gleichzeitig überkam Alice ein sehr merkwürdiges Gefühl, das sie sich zunächst überhaupt nicht erklären konnte, bis sie schließlich entdeckte, was es war: sie war wieder einmal am Größerwerden. Zuerst wollte sie aufstehen und aus dem Gerichtssaal fortgehen; aber dann besann sie sich eines Besseren und beschloß, wenigstens sitzen zu bleiben, solange sie noch Platz hatte.

»Wenn du doch nicht so drängeln wolltest«, sagte die Haselmaus, die neben ihr saß. »Man bekommt ja gar keine Luft mehr.«

»Ich kann nichts dafür«, sagte Alice voller Sanftmut; »ich wachse.«

»Du hast hier nicht zu wachsen!« sagte die Haselmaus. »Rede doch kein so dummes Zeug«, sagte Alice schon etwas mutiger; »du wächst ja selber, das weißt du ganz genau.«

»Schon«, sagte die Haselmaus, »aber ich wachse auf eine vernünftige Art und Weise und nicht in einem derart lächerlichen Ausmaß.« Und damit stand sie verdrießlich auf und ging zur anderen Saalseite hinüber. Unterdessen hatte die Königin den Hutmacher unablässig angestarrt, und während die Haselmaus quer durch den Saal ging, sagte sie nun zu einem Gerichtsdiener: »Man bringe mir die Liste mit den Sängern vom letzten Konzert!« - worauf der arme Hutmacher so heftig zu zittern begann, daß er beide Schuhe verlor. »Mach deine Aussage«, wiederholte der König erbost, »oder du wirst hingerichtet, ganz gleich, ob du aufgeregt bist oder nicht.«

»Ich bin ein armseliger Hutmacher, Euer Majestät«, begann der Hutmacher mit zitternder Stimme,  »und ich hatte mich doch gerade erst zum Tee hingesetzt - oder doch erst vor einer Woche ungefähr - und dann wurden auch die Butterbrote immer dünner — und dann noch das Taumeln durch den Tee —« »Was für ein Taumeln ?« fragte der König. »Mit dem Tee fing es jedenfalls an«, antwortete der Hutmacher.

»Natürlich fängt Taumeln mit einem T an!« sagte der König schneidend. »Du willst mich wohl für dumm verkaufen ? Und weiter ?«

»Ich bin ein armseliger Hutmacher«, fuhr der Hutmacher fort, »und dann fing fast alles zu taumeln an — nur, der Schnapphase sagte -«

»Das ist nicht wahr!« fiel der Schnapphase eilig ein. »Doch ist es wahr!« sagte der Hutmacher. »Ich bestreite die Aussage!« sagte der Schnapphase. »Er bestreitet die Aussage«, versetzte der König. »Laß das beiseite.«

»Nun, die Haselmaus sagte jedenfalls —«, fuhr der Hutmacher mit einem ängstlichen Blick auf die Haselmaus fort, ob die etwa auch bestreiten wollte; aber die Haselmaus bestritt nichts, denn sie war eingeschlafen. »Und dann«, erzählte der Hutmacher weiter, »schnitt ich noch etwas Butterbrot auf—«

»Aber was soll denn die Haselmaus gesagt haben?« fragte einer der Schöffen.

»Das weiß ich nicht«, sagte der Hutmacher. »Das weißt du auf der Stelle«, bemerkte der König, »oder du wirst hingerichtet.«  - Lewis Carroll, Alice im Wunderland. Frankfurt am Main 1970 ( IB 896, zuerst 1865)

Wahrheitsfindung (2)  Die Domänenbauern des Dörfchens Wschiwaja-Spes hatten sich mit den Bauern von Borowka und Sadirailowo zusammengetan und die Landpolizei in der Person ihres Beisitzers, eines gewissen Drobjaschkin, vom Erdboden vertilgt. Diese Landpolizei, das heißt der Beisitzer Drobjaschkin, hatte es sich nämlich einfallen lassen, allzuoft in ihre Dörfer zu kommen, was mitunter noch lästiger sein kann als eine Typhusepidemie. Der Grund dieser häufigen Besuche war (so meinten die Bauern), daß die Landpolizei, die an einer eigentümlichen »Schwäche«, des Herzens nämlich, gelitten, ein ungewöhnliches Interesse für die dörflichen Frauen und Mädchen bekundet hatte. Näheres darüber war unbekannt, wenngleich die Bauern in ihren Aussagen geradeheraus erklärt hatten, daß die Landpolizei lüstern wie ein Kater gewesen sei, daß man sie wiederholt gewarnt habe und daß man sie einmal sogar völlig nackt aus einer Hütte habe hinausjagen müssen. Natürlich hatte die Landpolizei für diese ihre »Schwäche« Strafe verdient, aber andererseits konnte man auch den Bauern von Wsdiiwaja-Spes und denen von Sadirailowo ihre Eigenmächtigkeit nicht einfach hingehen lassen, wenn sie tatsächlich an der Mordtat beteiligt gewesen sein sollten. Indessen, auch diese Sache blieb dunkel. Man hatte die Landpolizei mit völlig zerfetzter Uniform auf der Landstraße gefunden, und eine Physiognomie war überhaupt nicht mehr zu erkennen gewesen. Die Sache beschäftigte die Gerichte und kam schließlich ans Oberlandesgericht, wo zunächst in geheimer Sitzung beraten und dann folgender Spruch gefällt wurde: Weil es unbekannt ist, wer von den Bauern beteiligt ist, ihrer aber überhaupt sehr viele sind, weil andrerseits Drobjaschkin ein toter Mann ist, er also nichts mehr davon haben würde, selbst wenn er den Prozeß gewönne, die Bauern jedoch noch leben und daher ein Urteil zu ihren Gunsten für sie von größter Wichtigkeit wäre, wird vom Gericht beschlossen: Der Beisitzer Drobjaschkin ist selbst an seinem Tode schuld, da er die Bauern von Wschiwaja-Spes und Sadirailowo in ungerechter Weise bedrückt hat. Er ist auf der Heimfahrt im Schlitten an einem apoplektischen Gehirnschlag gestorben. - Nikolaj Gogol, Die toten Seelen. München 1965 (zuerst 1842)

Wahrheitsfindung (3)  Ein Wanderer, der Verlogenheit seines Vaterlandes müde, hat sich auf die Reise ins utopische Land derjenigen begeben, die die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sprechen. Kurz vor dem Ziel gabelt sich sein Weg. Am Beginn jedes der beiden Wege steht ein Wächter. Einer von ihnen lügt immer, der andere sagt stets die Wahrheit. Das war dem Emigranten vor dem Aufbruch mitgeteilt worden. Aber unbekannt bleibt ihm, wer der Lügner und wer der Wahrheitsager ist. Unser Wanderer weiß, daß am Ende eines der beiden Wege das ersehnte Land der Wahrheitsager liegt. Aber hinter welchem der Wege es liegt, ist ihm verborgen. Der Emigrant darf an irgendeinen der beiden Wächter eine - die einzige - Frage stellen, um auf den rechten Weg zu gelangen. Diese Frage muß so formuliert sein, daß sie mit ja oder nein beantwortet werden kann.

Natürlich ist keine Fragestellung erlaubt, in der zwei oder mehr Fragen durch Nebensätze getarnt stecken. Seien Sie ehrlich, auch gegen sich selbst.  - Nach: Willy Hochkeppel, Denken als Spiel. München 1973 (dtv 965)

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