Vorstellungskraft  Ich blicke auf den verschossenen, verglimmenden Vorhang, sehe, wie er sich leicht im kalten Hauch vom Fenster her bauscht. Auf dieser Vorhangstange könnte ich turnen. Ein vollendetes Reck. Wie leicht ließen sich dort Purzelbäume schlagen in der schalen, schon jahrelang benutzten Luft. Unwillkürlich fast gelingt ein elastischer Salto mortale — kühl, ohne innere Beteiligung, rein spekulativ sozusagen. Wenn man so äquilibristisch auf den Zehenspitzen auf diesem Reck steht und mit dem Kopf die Zimmerdecke berührt, hat man das Empfinden, daß es in dieser Höhe etwas wärmer ist, hat man die kaum erwartete Täuschung einer milderen Aura. Von Kindheit auf liebe ich es, das Zimmer aus der Vogelperspektive zu betrachten.

Ich sitze und lausche der Stille. Das Zimmer ist einfach mit Kalk getüncht. Manchmal schießt auf der weißen Zimmerdecke eine berstende Hühnerkralle hervor, manchmal löst sich raschelnd ein Plättchen Tünche. Soll ich verraten, daß mein Zimmer zugemauert ist? Wie das? Zugemauert? Wie ich dann hinausgehen könnte? Das verhält sich eigentlich so: für den guten Willen gibt es kein Hindernis, einem intensiven Verlangen stellt sich nichts entgegen. Ich muß mir nur eine Tür vorstellen, eine gute alte Tür, wie in der Küche meiner Kindheit eine war, mit eiserner Klinke und einem Riegel. Es gibt kein so fest zugemauertes Zimmer, in dem sich nicht eine solche vertrauliche Tür öffnen ließe, wenn nur die Kräfte langen, sie hinzudenken.  - Bruno Schulz, Einsamkeit. In: B. S., Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen. München 1966

Vorstellungskraft (2)  
 

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