orstellung    Es waren am Nachmittag unfaßbare Massen, die der Tunnel ausspie und die sich auf dem breiten Bürgersteig erwartungsgemäß zerstreuten.

Wie, wenn sie sich plötzlich zusammenballten, sich nicht mehr auflösten, plötzlich die Straße einnahmen? Immerhin waren sie zahlreich genug, sie konnten in ihrer Vielzahl die um sich selbst rotierende Bewegung der Hauptstadt ohne weiteres zum Erliegen bringen ... wie, wenn sie plötzlich das, worum sie sich drehten, das Leben, in seiner fortschreitenden Wertminderung erkannten und es zu ignorieren gedachten!

Und sich nicht mehr zerstreuten? - Ich lebte in einer Welt der Vorstellung ... immer wieder konnte es geschehen, daß mir die Wirklichkeit phantastisch wurde, irregulär, und von einem Augenblick zum andern bestand die Ruhe für mich nurmehr in einer unwahrscheinlich haltbaren Simulation. Dies war kein Wunder, wir lebten schließlich andauernd unter dem Druck, ein Verhalten in Betracht ziehen zu müssen, das womöglich gar nicht existierte. Es war ein Zwiespalt, in dem wir lebten: wir betrieben ununterbrochen Aurklärung, inwiefern sich die Wirklichkeit unseren Vorstellungen schon angenähert hatte... aber wir durften nicht glauben, daß unsere Vorstellungen wirklich wahr werden konnten. Nein, wir glaubten unseren eigenen Vorstellungen nicht, denn wir klärten ununterbrochen auf - für uns selber! -, daß es keinen Grund gab, ihnen Glauben zu schenken, den Vorstellungen. Aber es war schwer, aufzuklären ohne eine Vorstellung davon, was durch Aufklärung sichergestellt und gegebenenfalls verhindert werden sollte, möglichst im Ansatz schon verhindert, wie es unser ausdrückliches Ziel war. Darum war es notwendig, zu simulieren, daß die Wirklichkeit im Ansatz unseren Vorstellungen entsprach ... wann, fragte ich mich, war es soweit, daß wir den Dingen, die wir aufklärten, keine eindeutigen Zuordnungen mehr abgewinnen konnten: ob sie noch in den Bereich der Simulation gehörten, ob sie schon im Ansatz Wirklichkeit geworden waren. Die Wörter »noch« und »schon« drückten die Crux aus: konnte aus der Simulation die Wirklichkeit werden, und wo war der Übergang? Konnte, was noch Simulation war, schon in Wirklichkeit übergegangen sein, bevor wir es aufgeklärt hatten? Konnte Simulation Wirklichkeit werden, konnte uns die Wirklichkeit mit Simulation antworten. Wenn wir dies bejahen mußten, waren wir wahrscheinlich verloren ... also durften wir es gar nicht glauben.  - (ich)

Vorstellung (2) So wenig wir wissen, was Geist ist, so wenig wissen wir, was ein Körper ist. Wir bemerken gewisse Eigenschaften, aber was ist das für ein Gegenstand, dem diese Eigenschaften anhaften? Es gibt nur Körper, sagten Demokrit und Epikur; es gibt keine Körper, sagten die Anhänger des Zenon von Elea.

Berkeley, der Bischof von Cloyne, ist der letzte, der mit hundert verfänglichen Sophismen beweisen wollte, daß es keine Körper gibt. Sie hätten, behauptet er, weder Farbe, Geruch noch Temperatur; diese Modalitäten lägen in unseren Empfindungen und nicht in den Dingen selbst. Er hätte sich die Mühe sparen können, diese Selbstverständlichkeit zu beweisen; das war allgemein bekannt. Dann aber kommt er zu Ausdehnung und Festigkeit, die zum Wesen des Körpers gehören, und er glaubt zu beweisen, daß ein Stück grünes Tuch keine Ausdehnung besitzt, weil dieses Tuch nicht in Wirklichkeit grün ist; die Empfindung des Grünen liegt nur in uns: also besteht auch die Empfindung der Ausdehnung nur in uns. Nachdem er so die Ausdehnung abgetan hat, gelangt er zu dem Schluß, daß die mit ihr zusammenhängende Festigkeit von selbst verschwinde und es infolgedessen in der Welt nur unsere Vorstellungen gäbe. Nach diesem gelehrten Mann sind zehntausend Menschen, die durch zehntausend Kanonenschüsse getötet werden, eigentlich nur zehntausend Vorstellungen unseres Verstandes, und wenn ein Mann seiner Frau ein Kind macht, dann quartiert sich nur eine Vorstellung in einer anderen ein, aus der eine dritte hervorgehen wird.   - Voltaire, Philosophisches Wörterbuch. Frankfurt am Main 1967 (Sammlung Insel 32, zuerst 1764)

Vorstellung (3)  Er spielte Zirkusmelodien, jene Melodien, die den Musikclowns lieb und teuer sind oder als Begleitmusik bei den Auftritten der Jongleure dienen. Als er noch klein war, hatte er mehrmals, wenn eine Lücke im Programm entstanden war, in einem Matrosenanzug mit großem, weißem Kragen auftreten dürfen.

Er konnte auch noch andere Dinge. Nicht solche, die man gewöhnlich den Kindern beibringt. So kannte er fast alle Taschenspielerkunststücke seines Vaters, und seine langen, blassen Hände kamen ihm dabei wunderbar zustatten.

»Schau her. Ich nehme diesen Löffel. Er ist in meiner Hand, nicht wahr? Bist du ganz sicher? Nein, eben nicht! Meine Hand ist leer, und der Löffel liegt hinter dir auf dem Sofa . . .«

Er lachte. Er hatte ein wenig Röte auf den Wangen, wie die Kinder, die so von ihrem Spiel gefesselt sind, daß sie nichts mehr um sich herum wahrnehmen. Alice hatte ihn noch nie so gesehen.

»Noch eins . . .«

»Dazu brauchte ich ein Kartenspiel.«

»In der Schublade im Eßzimmer ist eins.«

Während sie es holen ging, spielte er Klarinette, eine leidenschaftliche Melodie, die alle Clowns der Welt kennen. Er war glücklich, und doch hatte er Tränen in den Augen, Tränen, die jedoch keine Tränen der Trauer waren.

»Weiter!«

»Such dir eine Karte aus. Zeig sie nicht. Leg sie selber in das Päckchen zurück und misch dann. So, und jetzt wette ich, daß die Karte, die du ausgesucht hast, in deinem Pantoffel ist . . .«

In ihrer Begeisterung küßte sie ihn mit vollen Lippen ab, dann stopfte sie sich voller Kuchen und rief:

»Weiter! . . . Spiel mir jetzt was auf dem Klavier vor . . .« - Georges Simenon, Ankunft Allerheiligen. Zürich 1979 (detebe 135/14, zuerst 1941)

Vorstellung (4)  Erst bildete er sich ein, es lägen zwei Frauen unter ihm, dann drei. Er dachte an ein erotisches Foto, das er bei Scope betrachtet hatte. Es stellte drei maskierte Frauen dar, die sich nackt mit schwarzen Strümpfen auf einem stark behaarten Mann tummelten. Dann wiederholte er das Wort ›Schenkel‹. Er ließ davon ab, um sich eine Episode aus seiner Kindheit ins Gedächtnis zu rufen, die es ihm erlaubt hatte, die Brüste eines jungen Mädchens zu berühren. Auch anderer Frauen erinnerte er sich, mit denen er das getan hatte, was er gerade mit Stella machte. Ein Seufzer entrang sich ihrer Brust.

Der Film, den er heute gesehen hatte, fiel ihm wieder ein. Darin kam eine Passage vor, in der man einem Einbruchsversuch beiwohnte. Die Verlobte des Helden war das hübsche Opfer, im letzten Augenblick entging sie ihm jedoch. Der folgende Ausschnitt zeigte Jean Balue in seinem Käfig. Ludwig XI. lächelte drohend, als er ihm zu singen befahl. Es wäre lustig gewesen, überlegte Trelkovsky, wenn die alten Damen statt Zeisige Jean Balues in ihren Käfigen züchteten. Stella stöhnte.

Als es vorbei war, wußte er sie sehr zärtlich zu küssen. Er wollte ihr vor allem keine Enttäuschung bereiten. Darauf schliefen sie ein.

Es dauerte nicht lange, da wurde Trelkovsky wieder wach. Seine Stirn war schweißgebadet. Das Bett schaukelte unter ihm. Er kannte dieses Gefühl und wußte aus Erfahrung, daß er sich so schnell wie möglich zur Toilette begeben mußte. Er tastete nach dem Schalter, denn Stella hatte vor dem Einschlafen das Licht ausgemacht. Wankend erhob er sich und fand auch die Toilettentür, die sich neben der Küche befand. Er kniete sich vor die Schüssel, stützte den Unterarm auf die Brille und legte seine Stirn darauf. Sein Kopf ruhte knapp unterhalb des Sammelbeckens, in dem das Wasser dumpf rauschte. Sein Magen kehrte sich um, und er übergab sich. - Roland Topor, Der Mieter. Zürich 1976 (detebe 20358, zuerst 1964)

Vorstellung (5)  in der ersten zeile stellt sich der dichter ein geschlechtsorgan vor in der zweiten zeile stellt sich der dichter kein geschlechtsorgan vor in der dritten zeile stellt sich der dichter vor wie der leser sich ein geschlechtsorgan vorstellt in der vierten zeile stellt sich der leser vor wie sich ein geschlechtsorgan den dichter vorstellt in der fünften zeile stellt sich ein geschlechtsorgan vor wie sich der leser kein geschlechtsorgan vorstellt in der sechsten zeile stellt sich der dichter vor wie sich der dichter keinen dichter vorstellt in der siebenten zeile stellt sich kein leser ein geschlechtsorgan vor in der achten zeile stellt sich kein geschlechtsorgan vor wie sich kein geschlechtsorgan ein geschlechtsorgan vorstellt in der neunten zeile stellt sich kein dichter ein geschlechtsorgan vor in der zehnten zeile stellt ein geschlecht sich ein organ vor das gedicht ist nicht pornografisch und bezieht seinen reiz aus dem titel NOVEMBER - (pas)

Vorstellung (6) Du, Heiliger Franziskus, bust allzu heilig, zu nahe an der Vollkommenheit, und zu wenig bereit, die Gedanken zu verstehen, die einem armen Klosterbruder durch den Kopf gehen, der sich anstrengt, nicht in Sünde zu fallen, aber allabendlich vor dem Einschlafen in seiner Vorstellung sündigt. Erzeugt die Vorstellung Sünden? Dem Franziskanerdiakon war nicht bekannt, daß die Vorstellung in irgendeinem heiligen Text als Instrument der Sünde genannt wäre. Wohl aber das Verlangen, denn es ist Sünde, eines anderen Weib zu begehren, aber Theodora war jetzt niemandes Weib mehr. Die Vorstellung an sich ist nur ein geistiger Erguß, der den Platz der Sünden einnimmt und sie fernhält. Sich eine Sünde vorzustellen kann nur eine kleine Schuld sein im Vergleich zu einer in der Wirklichkeit begangenen Sünde. Jacopo da Voragine sagt nicht, ob Theodora blaue oder braune Augen hatte oder ob ihr Haar blond oder schwarz war. Der Diakon stellte sie sich dunkelhaarig vor und mit flammenden Augen, ein liebreiches Weib und schön, eine offenherzige und großmütige Heilige. Wie du weißt, Heilige Theodora, hege ich für deine Person ein Gefühl, das jede Nacht in meinem Herzen wächst. Ich hoffe so sehr, daß es dich wirklich gegeben hat in Alexandria, auch wenn man dich, nachdem man dich zur Heiligen erhob, hinterlistig aus dem Kirchenkalender wieder gestrichen hat.  - Luigi Malerba, Die nackten Masken. Berlin 1995
 

Hypothese Phantasie

 

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VermutungEinbildungskraft
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