ormittag
 

Die Glasglocke

Besonders morgens ist, in den Gewächshäusern,
schräg gegenüber, wo Gurken gedeihen,
ohne Rücksicht auf Mord und Totschlag,
ich gähne freudig, alles in Ordnung.
Aus meinem Hahn, dessen kaltes Email
KALT sagt, schwarz auf weiß, fließt wie immer
das Wasser warm. Der Trödler schräg gegenüber
zieht seinen Rolladen hoch, donnernd.
Ich sehe Leute, die kehren, backen,
nageln, zählen, waschen und schreiben.
Ich schreibe, ordentlich. Möbelpacker
sind da, rollschuhfahrende Kinder. Warum
so ordentlich? so gewaltlos? als wäre
nichts der Fall? Am offenen Fenster
stimmt jemand das Klavier, ich kann nur
seine Hände sehen, wie nackt sie sind
und wie weich! Ein Kühlschrank beginnt
zu summen, Züge sind pünktlich, es dreht sich
unter der glasigen Haube des Zählers
lautlos ein Ring, in der Morgensonne
glitzernd. Ein Mann steht, winzig
und hellblau, schräg gegenüber, hoch
auf dem Dach, er wippt, er bückt sich,
er klopft an das verzinkte Blech, ich sehe
ihn klopfen, aber ich höre nichts.
Ein scheckiger Frieden dehnt sich, weich
und winzig, am Vormittag, halb betäubt
von der Sonne, in einer alltäglichen Trance,
und streckt sich gelb, wie die Katze
auf dem Zementsack, schräg gegenüber. 

  - Hans Magnus Enzensberger, Die Furie des Verschwindens. Frankfurt am Main 1980 (es 1066)

Vormittag (2)  Den Vormittag verbrachte meine Großmutter aufrecht im Bett sitzend, mit einer Reihe voluminöser Daunenkissen im Rücken. Bekir legte ihr ein Kissen auf die Bettdecke und plazierte darauf ein riesiges Tablett mit weichen Eiern, Oliven, Schafskäse und geröstetem Brot (ein Schönheitsfleck war nur die alte Zeitung zwischen dem geblümten Kissen und dem Silbertablett). Dann frühstückte meine Großmutter in aller Ausführlichkeit (ich sah ihr dabei ab, wie man Tee mit einem Stück Schafskäse im Mund trinkt), las Zeitung und empfing den ersten Besuch. Als erstes kam mein Onkel, der nie zur Arbeit ging, ohne sich von seiner Mutter zärtlich zu verabschieden. Sobald mein Onkel aus dem Haus war, machte meine Tante ihre Aufwartung, schon mit der Tasche in der Hand.   - Orhan Pamuk, Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt. Frankfurt am Main 2011
 
 

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