orleben  Als Doktor Cirmeni seine Witwe heiratete, kränzte er sie vor den Augen der Freunde nicht mit künstlichen Orangenblüten.

Er verhehlte es niemandem, daß die Dame Mutter eines reizenden Töchterchens sei und daß sie in der Witwenepisode kleine Freunde für den häuslichen Gebrauch gehabt habe.

Doktor Cirmeni war häßlich, aber er hatte Geld.

Wenn man einer Frau einen Mann zwecks Verehelichung vorstellt, der vom ökonomischen Standpunkt aus eine gute Partie ist, so sieht sie seine körperlichen Defekte nicht, selbst wenn er häßlich und mißgestaltet ist. Sie würde ihn nur häßlich und mißgestaltet finden, wenn der Mann sie abgewiesen hätte.

Doktor Cirmeni war häßlich, aber intelligent. Er war mager, bleich, fleischlos wie die Giftetiketten in einer Apotheke; er hatte kleine Augen, wie Kurzsichtige und gekochte Hennen sie haben; und er besaß in der Stadt eine Klinik für Knochenkrankheiten und eine Geliebte.

Als junges Mädchen war seine Geliebte Modistin gewesen, dann chanteuse; dann Kokotte; und sie war zu einer grande cocotte aufgestiegen. Um eine grande cocotte zu werden, muß man als Modistin und chanteuse anfangen. Diese Zwischenstufen bereiten auf das Kokottentum vor wie der Journalismus auf die Politik.

Nachdem sie auf allen internationalen Eisenbahnlinien als reisende Kokotte ihr Wesen getrieben und in allen Hotels der elegantesten Badeorte und der sexuell belebtesten Metropolen ihr horizontales Handwerk ausgeübt hatte, zog sie sich von den Geschäften zurück, um sich ganz den intimen Bemühungen des Doktor Cirmeni zu widmen. Sie machte es wie jene, die, nachdem sie Jahre und Jahre den rastlosen Beruf eines Advokaten ausgeübt haben, ihr Büro schließen und in eine Privatverwaltung eintreten, wo sie sich treulich mit den mehr oder weniger sauberen Geschäften eines einzigen Kunden befassen. - Pitigrilli, Der Keuschheitsgürtel. In: P., Betrüge mich gut. Reinbek bei Hamburg 1988 (rororo 12179, zuerst 1922)

Vorleben ⁽²⁾