orgefühl   Ich hielt inne. Man hörte nichts. Kein Lufthauch bewegte die Blätter. Was habe ich nur? dachte ich. Seit zehn Jahren kam ich so nach Haus, ohne daß mich auch nur die mindeste Unruhe gestreift hätte. Ich hatte keine Angst. Noch nie habe ich bei Nacht Angst gehabt. Wäre ich auf einen Mann, einen Stromer, einen Dieb getroffen, es hätte mich in Wut versetzt, und ich wäre ohne weiteres auf ihn losgegangen. Außerdem war ich bewaffnet. Ich hatte meinen Revolver bei mir. Aber ich rührte ihn nicht an, denn ich wollte den Einfluß der Furcht, die in mir keimte, meistern.

Was war das? Ein Vorgefühl? Das rätselhafte Vorgefühl, das sich der Sinne des Menschen bemächtigt, bevor er dem Unerklärlichen begegnet? Vielleicht. Wer weiß?

In dem Maße, wie ich vorwärtsschritt, kribbelte es mir auf der Haut, und als ich vor der Fassade mit den geschlossenen Fensterläden meines großen Hauses anlangte, fühlte ich, daß ich einige Minuten warten müßte, ehe ich die Tür aufschloß und eintrat. So ließ ich mich denn auf einer Bank unter den Fenstern meines Salons nieder. Eine Weile saß ich da, den Kopf gegen die Hauswand gelehnt, die Augen offen und nach dem dunklen Laubwerk gerichtet. Zunächst bemerkte ich um mich nichts Ungewohntes. Ich hatte ein Rauschen in den Ohren; aber das geschah mir oft. Manchmal war mir dann, als hörte ich Züge rollen, hörte Glocken läuten, hörte eine Menschenmenge in Bewegung.

 Das Rauschen wurde bald stärker, deutlicher, erkennbarer. Ich hatte mich getäuscht. Es war nicht das übliche Rauschen meiner Arterien, das jene Klangbilder in meinen Ohren erzeugte, sondern ein eigenes, wenngleich ganz wirres Geräusch, das — ich konnte daran nicht zweifeln — aus dem Inneren meines Hauses drang.

Ich hörte es durch die Hauswand, ein fortdauerndes Geräusch, mehr Bewegung als Geräusch, ein dumpfes Rumoren einer Unmenge von Dingen, so als würden alle meine Möbel gerüttelt, verrückt, leise geschoben. - (nov)

Vorgefühl  (2)  Es ist seltsam, mit wie wenig Glauben an das Glück ich auf die Welt gekommen bin. Ich habe schon in früher Jugend ein vollständiges Vorgefühl vom Leben gehabt. Es war wie ein ekelerregender Küchengeruch, der aus einer Lüftungsklappe aufsteigt. Man braucht von dem Gekochten nichts gegessen zu haben, um zu wissen, daß man davon wird kotzen müssen.  - Flaubert an Maxime du Camp, 7. April  1846, nach (flb)

Vorgefühl  (3)   Die Schwarzen besitzen viel weniger als wir Weißen den Sinn für das Drohende im Leben. Zuweilen bin ich auf der Jagd oder auf der Farm in Augenblicken höchster Spannung den Blicken meiner schwarzen Begleiter begegnet und habe gespürt, wie wir einander fern waren und wie sie mein Vorgefühl von drohender Gefahr staunend betrachteten. Das brachte mich auf den Gedanken, daß sie vielleicht das Leben als ihr eigenstes Element empfinden, so wie wir es nie vermögen, wie Fische im tiefen Wasser, die um nichts in der Welt begreifen könnten, warum wir uns fürchten zu ertrinken. - (blix2)

Vorgefühl  (4)  Leicht beunruhigt musterte ich  die vorbeifliegende Landschaft mit ihren Straßen, Ortschaften und Bauernhöfen, und ich hatte dabei ein wenig gutes Vorgefühl.

Vielleicht hing es mit meinem besonderen Gemütszustand zusammen: Je schärfer ich die Menschen beobachtete, die Bauern, die Fuhrleute und sonstiges Landvolk, desto mehr hatte ich den Eindruck, daß heute überall eine ungewohnte Bewegung herrschte. Warum dieses Kommen und Gehen in den Höfen, diese aufgeregt hin und her laufenden Frauen, diese Wagen, dieses viele Vieh auf den Straßen? Überall das gleiche Bild. Wir fuhren so schnell, daß ich nie Genaueres ausnehmen konnte, und doch hätte ich geschworen, die Ursache dieser ganzen Unruhe sei überall dieselbe. Fand etwa in dieser Gegend ein großes Fest statt? Oder strebte alles einem Markt zu? Aber der Zug fuhr und fuhr, und wohin ich blickte, sah ich dasselbe Durcheinander, denselben Aufruhr. Jetzt endlich brachte ich die Frau am Schlagbaum, den Mann auf der Mauer und das aufgeregte Gebaren der Bauern in Zusammenhang miteinander: Etwas war geschehen, und nur wir im Zug wußten nichts davon.

Ich musterte meine Reisegefährten — die im Abteil und die, die draußen auf dem Gang standen. Sie hatten nichts bemerkt. Sie schienen ganz ruhig. Die etwa sechzigjährige Dame, die mir gegenübersaß, war gerade dabei, einzunicken. Oder kam auch ihnen etwas nicht geheuer vor? Ja, ja, auch sie waren unruhig, jeder für sich genommen, und getrauten sich nicht zu sprechen. Mehr als einen ertappte ich dabei, wenn ich plötzlich hinsah, wie er hinausstarrte. Besonders die schläfrige Dame - ja, gerade sie - spähte unter den gesenkten Lidern hervor und warf dann sogleich einen scharfen Blick nach mir, um festzustellen, ob ich etwas von ihrer Nervosität wahrnahm. Wovor hatten sie denn alle Angst?

Neapel. Gewöhnliche Züge halten hier, doch nicht unser Expreß. Der raste dicht an den alten Häusern vorbei, und wir sahen in finsteren Höfen erleuchtete Fenster und in den dahinterliegenden Zimmern sekundenlang Männer und Frauen, die sich über Bündel und Koffer beugten, als packten sie in aller Hast. Oder irrte ich mich, und das alles war nur eine Ausgeburt meiner Phantasie?

Sie rüsteten zur Flucht. Zur Flucht wohin? So war es also keine frohe Nachricht, die Stadt und Land elektrisierte. Es war eine Drohung, eine Gefahr, eine Unglücksbotschaft! Dann sagte ich mir: Aber wenn sich eine große Katastrophe ereignet hätte, wäre doch der Zug angehalten worden! Der Zug aber traf überall auf das Signal für freie Fahrt und auf richtig gestellte Weichen, ganz so, als handle es sich um eine Jungfernfahrt.

Der junge Mann, der neben mir saß, hatte sich erhoben, wie um sich ein wenig die Beine zu vertreten. In Wirklichkeit aber wollte er nur besser sehen, und er beugte sich über mich, um der Fensterscheibe näher zu sein. Draußen lag das Land in heller Sonne, und auf den weißen Straßen bewegten sich Züge von Pferdefuhrwerken, Lastwagen und Fußgängern — lange Karawanen, wie sie an hohen Festtagen diesem oder jenem Wallfahrtsort zustreben. Und je weiter nach Norden unser Zug vordrang, desto dichter wurden draußen die Kolonnen. Alles zog in derselben Richtung, zog gegen Süden, auf der Flucht vor dem Unheil, indes wir uns mit rasender Schnelligkeit dem Krieg, der Revolution, der Pestilenz, dem Feuer — oder was immer es sein mochte — entgegenstürzten. Was uns erwartete, das würden wir erst nach weiteren fünf Stunden erfahren - bei unserer Ankunft. - Dino Buzzati, Die Maschine des Aldo Christofari. Frankfurt am Main 1985

Erwartung
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