Voraus-Avantgarde

Manifest (Fest-mani)

Die schönste Kunst, und wer weiß, ob nicht die schwierigste, ist die Lüge.
(Aus meinem Gespräch mit meinem Freunde Rühmer Flunker-Erbrecher im Cafée Destruction)

In den letzten Tagen des August 1921 sind in Frankreich zwei neue sogenannte zusammengekoppelte (conjoints) künstlerische Richtungen entstanden: Der N'importe-quoi-isme und der comme-pour-quisme, der Egalwasismus und der Wiefürwenismus. Ihre wichtigsten Vertreter sind: Paul Désbauches und Tristan de Tourmentelles, sowie auch Mademoiselle Ciaire Lafondru. Wir bekennen uns zu ihnen als den wichtigsten (obschon nicht ausreichend theoretisch aufgeklärten) Schöpfern des frühesten Frühgemüses, und wir wollen hier bei uns ihre Importeure sein, mit dem Vorbehalt, daß wir uns bemühen werden, in den Rahmen der exakten Theorie das aufzunehmen, was bei den oben genannten Künstlern nur ein mächtiger, ihre Geist-Körper aufblähender Instinkt ist.

Auf die Menschheit geht eine Lawine von »Richtungen« nieder. Kaum hebt die radikalste unter ihnen ein wenig den Kopf und beginnt, offiziell zu werden, schon kommt eine neue daher, deren Vertreter die »Moguln« der vorherigen für morsche Mumien erklären und die sich weiter in den Rachen des Ungewissen drängen. Die Beschleunigung dieses Prozesses nimmt mit jedem Augenblick zu. Die als Neuigkeit ausgerufene »Reine Form« von S. I. Witkiewicz und der »realistische Unsinn« der Futuristen brechen bereits zusammen unter dem Einfluß der aufrichtigen Anstrengungen der Dadaisten. Für uns, die Jüngsten (wir sind gerade erst zwischen 16 und 18, mit Ausnahme von Josefa Sommersproß, die 13 ist), die wir die aufrichtig abgewetzten dadaistischen Trottoirs nicht niedertreten wollen, und die wir auch das künstlerische Leben ein wenig auskosten wollen, ist all dieses jüngste Frühgemüse nichts. Weshalb? Die Antwort ist einfach: wegen der scheinbaren Aufrichtigkeit, durch die die maskierte tatsächliche Flunkerei verborgen wird. Dessen sind sich unsere Brüder in Frankreich nicht bewußt geworden, und das stellen erst wir klar, die polnischen Pürflünkeristen, mit dieser Bezeichnung ziehen wir die beiden vorherigen »zusammengekoppelten« Richtungen mit ein.

1) Die Aufrichtigkeit ist zur Unmöglichkeit geworden. Nur noch selten krepieren die aufrichtigen Mammuts des Futurismus und Formismus (für uns und für die Öffentlichkeit ist alles ein. Ha! Ha!) in Verzweiflung. Die Flunkerei formt alle Richtungen auf eine Weise, über die sich ihre Schöpfer nicht im klaren sind und die deshalb fatal ist.

2)  Welche ist eine höhere »Marke« als der Dadaismus? Wir stellen dieses Problem für manche wohl auf unverschämte Weise. Aber einmal muß man die Maske herabreißen, die so viele Generationen bedrückt hat, da sie sie zum Versauern in der eigenen Soße der genialsten Flunkerer verurteilt hatte. Man muß vermerken, daß in eben dieser auf solche Weise durchgeführten Problemstellung bereits das Wesen des neuen Programms steckt. Wir fragen nochmals: womit kann man den Futurismus und Dadaismus überholen? MIT DER REINEN FLUNKEREI. Was für eine Freiheit! Was für eine Wonne! Endlich beginnen, frei und wonnevoll zu flunkern. Hurra!! Die Brust bläht sich, die Haare wehen, die Augen ragen zum Schädel heraus. Die reine Flunkerei!! Dieses magische Wort, das niemand zu sagen den Mut hatte, sagen wir, schreien wir, brüllen wir. WIR, die ersten und die letzten. Uns überholt keiner. Und dabei ist unsere Flunkerei wesenhaft - sie betrifft nicht das äußere Aussehen zum Beispiel gedruckter Verse.

Was sind denn die Entdeckungen des Futurismus und Dadaismus angesichts dieses alles zerschmetternden Bekenntnisses? Kilometergedichte und Quadratleinwandhektare können wir mit reinem Gewissen schaffen, wenn wir unbesorgt flunkern. Und dabei schlagen wir den »Spießbürgern« die tückischste Waffe aus der Hand: den Vorwurf der Unaufrichtigkeit.

3) Aber erwachen wir aus der ersten Begeisterung! So einfach es einerseits ist, ein wenig zu flunkern (ein wenig Picasso oder Boccioni nachzuahmen, ein wenig sich selbst nachzuahmen, ein wenig sich selbst zu verblüffen usw.), so ungewöhnlich schwierig ist es andererseits, die Reine Flunkerei zu erreichen.

Mareli Duchánski-Blaga Redakteur [Stanislaw I. Witkiewicz]

      - Nach: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Hg. Wolfgang Asholt, Walter Fähnders. Stuttgart Weimar 1995

 

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