Volk, auserwähltes   Dark wandte sich der Geschichte von Babel zu, führte seinen Plan weiter aus und verkündete seine Vision der kommenden Dinge. Er zitierte den zweiten Vers, Genesis II - «Da sie nun zogen gen Morgen, fanden sie ein ebenes Land im Lande Sinear und wohnten daselbst» - und stellte fest, daß dieser Abschnitt die Bewegung des menschlichen Lebens und der Kultur nach Westen bewies. Denn die Stadt Babel - oder Babylon - lag in Mesopotamien, weit östlich des Landes der Hebräer. Wenn Babel östlich von allem lag, war es Eden, der Ursprungsort der Menschheit. Die Zerstreuung des Menschen über die ganze Erde, wie es seine Pflicht ist - laut Gottes Gebot: «Seid fruchtbar... und erfüllet die Erde» -, würde unvermeidlich in westlicher Richtung vonstatten gehen. Und was für ein Land in der ganzen Christenheit, fragte Dark, lag weiter im Westen als Amerika. Die Reise englischer Siedler in die Neue Welt konnte daher als die Erfüllung des alten Gebotes gesehen werden. Amerika war der letzte Schritt in dem Prozeß. Sobald der Kontinent einmal erfüllt war, wäre die Zeit reif für einen Wandel im Geschick der Menschheit. Der Hinderungsgrund für den Bau von Babel - daß der Mensch die Erde erfüllen muß - würde entfallen. In diesem Augenblick würde es wieder für die ganze Erde möglich sein, einerlei Zunge und Sprache zu haben. Und wenn das geschah, konnte das Paradies nicht mehr fern sein.

Wie Babel 340 Jahre nach der Sintflut erbaut worden war, so würde - sagte Dark voraus - genau 340 Jahre nach der Ankunft der «Mayflower» in Plymouth das Gebot erfüllt werden. Denn gewiß waren es die Puritaner, Gottes neues auserwähltes Volk, die das Los der Menschheit in ihren Händen hielten. Nicht die Hebräer, die Gott verrieten, da sie sich weigerten, seinen Sohn anzunehmen, sondern diese verpflanzten Engländer würden das Schlußkapitel der Geschichte schreiben, bevor Himmel und Erde endlich eins wurden. Wie Noah in seiner Arche waren sie über die weite Meeresflut gefahren, um ihre heilige Mission zu erfüllen.

Dreihundertvierzig Jahre nach Darks Berechnungen bedeuteten, daß 1960 der erste Teil des Werkes der Siedler getan sein würde. Zu diesem Zeitpunkt wären die Grundlagen für das eigentliche Werk geschaffen, das noch folgen sollte: der Bau des neuen Babel. Schon, schrieb Dark, sah er ermutigende Zeichen in der Stadt Boston, denn dort war wie nirgends sonst auf der Welt das häufigste Baumaterial der Ziegel, der in Genesis II,3 als das Baumaterial Babels bezeichnet wird. Im Jahre 1960, bemerkte er zuversichtlich, würde das neue Babel beginnen emporzuwachsen und in seiner Gestalt dem Himmel entgegenstreben als Symbol der Wiederauferstehung des menschlichen Geistes. Die Geschichte würde dann rückläufig geschrieben werden. Was gefallen war, würde wieder aufgerichtet, was zerbrochen war, würde wieder ganz werden. Sobald er einmal vollendet wäre, würde der Turm groß genug sein, um alle Bewohner der Neuen Welt aufzunehmen. Es würde einen Raum für jeden Menschen geben, und sobald er ihn betrat, würde er alles vergessen, was er jemals wußte. Nach vierzig Tagen und vierzig Nächten würde ein neuer Mensch hervortreten, der Gottes Sprache redete und bereit war, das zweite, immerwährende Paradies zu bewohnen.  - Paul Auster, Die Stadt aus Glas. in: P. A., Die New-York-Trilogie. Reinbek bei Hamburg 1991

Volk, auserwähltes (2)  Was kann erhebender sein als von der fieberschwülen Küste auf dem einzigen von Dibulla ins Innere nach San Antonio führenden Wege durch die dumpfdunklen regendurchrauschten Wälder mit ihrer hochgetriebenen, nie zu nutzenden Fruchtbarkeit, durch diese sonnenlosen Schrunde und brausenden Höllen goldführender Flüsse endlich die fernsichtigen Hochsteppen zu erreichen und immer höher aufzusteigen in die atmende Klarheit dieser nicht mehr menschlichen, geisterhaften, leeren und eisigreinen Gefllde?

Kein Wunder, daß die Bewohner solcher Landschaft sich als ein auserwähltes Volk fühlen und erhaben über jene Kreolen der Tiefe, die wie ein lästiges irdisches Ungeziefer nur zuweilen zu ihnen heraufdringen und sich dort gemein machen mit ihren verderbten Sitten und unweisen Geschäften. In hohem Bewußtsein halten die Kägaba sich abgeschieden in ihrer erhabenen Bergwelt, des Glaubens, sie seien das älteste Volk der Welt, eingeweiht in geheimes Wissen, das sie verpflichte, in früher Jugend schon in einem Zustande kultischer Reinheit, denktief, strenggesammelt und immer versunken in das Andenken der großen All-Mutter und ihrer Ahnen zu leben, die ihnen erlauchte Worte hinterließen zum Ruhme und zur Heiligung einer von Dunkel befangenen Welt.

Ein seltsamer Lebensernst liegt über diesen Männern, verstärkt noch durch die seltsame und gleichsam apostolische Tracht: baumwollene weiße lange Hemden mit weiten Ärmeln, durch einige violette Streifen geziert, dazu weiße Hosen und weiße, wie Stahlhelme geschnittene Mützen, unter denen struppig die dunklen Mähnen hervorquellen, über die Schultern gehängt eine oder mehrere Umhängetaschen aus Bast mit geometrischen Mustern, deren Rot, Goldgelb und Schwarz auf dem hellfarbigen Gewände und der sonnengebräunten Haut die effektvollsten Harmonien bildet.

Sie sind keine schönen Menschen: ihre Gesichter - wie meist bei Indianern in der Jugend noch überflogen von einem weißen sinnlichen Schmelz - werden zu bald durch die rauhe Luft der Berge gefurcht und erscheinen verwittert und wie zerschrunden. Der eigentümlich straffe Gang verrät den Gebirgler, der steile Hänge gewohnt ist - und kühl-unnahbar, voll angeborener Würde, gänzlich abgehoben von der leichtblütigen, flachen und horizontlosen Art der Leute dort unten im Tiefland, scheinen sie in ihrer Gesammelt-heit und Distinktion von dem gleichen Kernwesen beseelt zu sein wie ihre Berge: es ist dieselbe Reife und Gründigkeit, das beruhend abgeschlossen in sich Fertige, das auch der Granit als Kennung hat, dieses Archaische, diese passive Schwere - und ist doch an sich schon aristokratischer Ernst und die geübte Fähigkeit groß zu denken allem Indianervolk eigen.

Immerfort eingedenk der Vergangenheit, die sie in ihrem durchaus historischen und hierarchischen Sinne als festes Strombett der Gegenwart anerkennen, das diese erst befaßt und ihre zufälligen Erscheinungen ordnet, und somit immer ihre Überlieferungen des Altertums memorierend, wie in einem Wachtraume versunken, leben sie, wie de Brettes sagt, in einer beständigen gymnastique intellectuelle, haben darum ein erstaunliches Gedächtnis und unfehlbaren Ortssinn, der ihnen dienlich ist auf ihren vielen Gangen durch das Gebirge. Denn keineswegs sind sie bei aller Eingezogenheit träge oder stubenhockerisch kleinlaut, vielmehr - nach dem Gesetze des Widerspruchs, das jeden echten Charakter aufbaut - im innigsten Umgange mit der Natur von einer ziellosen Wanderliebe beunruhigt und getrieben: so sieht man sie oft einsam die höchsten Kämme und Grate erklimmen, in Andacht an den Seen der Gletscher verweilen und wiederum mutig in die eiskalten brausenden Bäche tauchen (sie baden bei Wanderungen oft über 20 Male am Tag) oder mit weiten Schritten in aufgeräumtester Laune die Hänge hinunterspringen - sie ziehen wohl auch mit Frau und Kindern samt ihren Ochsen von Ort zu Ort nicht zu irgendwelchem Geschäfte, sondern einzig aus Aufnahmelust und Freude, zu erfahren, wie die Welt weitergeht, wie es dort hinter den Bergen ist, und so kennen sie jeden Felsen, jeden Quell, jede Wasserscheide, jede Gesteinsart, jede erzene Ader, jeden Standort seltener Blumen, jedes heilsame Kraut, nennen die Dinge bei Namen und sind die geborenen Naturverehrer und Naturforscher.

Dieses Mitleben im All gibt ihnen eine große und gelassene Art ~ sie sind friedfertig bis zur Schwäche, haben nie Kriege geführt -entzieht sie aber auch dem eigentlich Menschlichen und seinen Affekten: sie bedürfen der Liebe kaum, sind - zwar höflich und sehr taktvoll, doch wenig gastfrei, selten in Wut, nicht klagselig, ohne Tränen. Auch ihre Toten beweinen sie kaum und pflegen angeblich ihre Schwerkranken und Alten, als wären sie jedes Mitleides bar, lebendig in die Erde einzuscharren, gewiß nicht ohne sie vorher zu betäuben; kein Reisender allerdings hat dies mit eigenen Auge gesehen, und es ist wohl anzunehmen, daß sie die Kranken mit deren Willen vergiften, wenn diese schon zu schwach sind, freiwillig selbst ihr Leben zu enden: Selbstmord war nicht nur in solchen Fällen früher sehr häufig und ehrenvoll, man setzte sich auf einen Stein, legte sich einen Strick um den Hals und schlang dessen Enden um die Füße, streckte dann die Beine aus und erdrosselte sich.  - Jürgen von der Wense, nach: Der Pfahl VII. München 1993

Menschengruppen (physisch) Auserwählt

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