Vogelmensch  1906 Erster Kontakt mit okkulten, magischen und zauberhaften Kräften. Einer seiner besten Freunde, ein sehr intelligenter und anhänglicher Kakadu, starb in der Nacht des 5. Januar. Es war ein furchtbarer Schreck für Max, als er am Morgen den toten Vogel fand und als im selben Augenblick sein Vater ihm die Geburt seiner Schwester Loni ankündigte. Die Bestürzung des Jungen war so groß, daß er ohnmächtig wurde. In seiner Phantasie verknüpfte er beide Ereignisse und machte das Baby für das Erlöschen des Vogellebens verantwortlich. Eine Serie von seelischen Krisen und Depressionen folgte. Eine gefährliche Vermischung von Vögeln und menschlichen Wesen setzte sich in seinem Gemüt fest und fand später Ausdruck in seinen Zeichnungen und Gemälden. Diese Vorstellung verließ ihn nicht, bis er 1927 das Vogeldenkmal errichtete, und Max identifizierte sich dann später selbst mit 'Loplop, dem Obersten der Vögel'. Dieses Phantom blieb untrennbar von einem anderen, ›Perturbation ma sœur, la femme 100 têtes‹ genannt. 

1906—1914 Ausflüge in die Welt der Wunder, der Chimären, Phantome, der Dichter, der Ungeheuer, der Philosophen, Vögel, Frauen, Irren, Magier, Bäume, Erotika, Steine, Insekten, Berge, Gifte, Mathematik usw. Ein Buch, welches er zu dieser Zeit schrieb, wurde nie veröffentlicht. Sein Vater fand und verbrannte es. Es hieß: ›Diverse Tagebuchblätter‹.

1914 Max Ernst starb am 1. August 1914. Er kehrte zum Leben zurück am 11. November 1918 als junger Mann, der ein Magier werden und den Mythos seiner Zeit finden wollte. Hin und wieder befragte er den Adler, der das Ei seiner vorgeburtlichen Existenz gehütet hatte. Die Ratschläge des Vogels kann man in seinem Werk wiederfinden.  

Max Ernst (li.) in Hans Richters 'Dreams that money can buy'

- Max Ernst, nach: Hans Richter, Dada - Kunst und Antikunst. Köln 1964

Vogelmensch (2)  Wie große Mäuse tauchten zwei Männer aus den Feldern hinter der Scheune auf. Sie gehörten zu Rubens indianischem Kader. Sie sprachen kein Spanisch, konnten aber ein Flugzeug fliegen. Sie machten dem zambo Angst, in dessen Adern ebenfalls Ticuna-Blut floss, der mit ihnen jedoch in keiner Sprache mithalten konnte. Sie waren keine Mörder, sondern Jäger, Fischer und Flugzeugpiloten. Sie waren auch als Vogelmenschen bekannt, legten sie doch zuweilen Flügel an, die aus Kondorfedern und einem besonderen Wachs gemacht waren, und dann flatterten sie im Regenwald umher, schwebten zwischen den Bäumen, trugen Kriegsbemalung und rauchten schwarze Zigarren. Sie flößten allen Tieren im Umkreis von vielen Meilen Angst ein. Aber so nahe an Medellin trugen sie keine Flügel.

Sie öffneten die Scheune und schoben einen Doppeldecker ins Freie, der aus Papier, Metall und Holz gebaut war. Es sah aus wie ein gefährliches Spielzeug. Sie machten sich am Propeller zu schaffen, streiften ihre primitiven Fliegermützen über, stellten sich auf die unteren Tragflächen und flickten die Streben mit einer Art Klammerpistole. Erst danach beschlossen sie, sich dem Transporter zu nähern. Sie halfen den drei Passagieren herunter, einem nach dem anderen, und bestanden darauf, sie zum Doppeldecker zu tragen. Rüben versuchte gar nicht erst zu widersprechen. Es waren seine Ticunas. Derjenige, der Yolanda trug, roch nach verfaulenden Orangen. Er rauchte einen Stumpen. Er tanzte auf seinen Fußballen, und Yolanda hatte das Gefühl, jeden Moment zu fliegen. Sie konnte nicht begreifen, dass er sich die Lippen noch nicht an dieser kurzen Zigarre verbrannt hatte.

Yolanda war noch nie in so einem aberwitzigen Flugzeug gewesen. Es war, als würde man ungeschützt durch die Luft fliegen. Die Wolken sickerten durch die Tragflächen und sammelten sich an ihren Füßen. Die Vogelmänner trugen Schutzbrillen. Sie konnten in dieser Atmosphäre sehen und das Flugzeug mit Händen und Füßen steuern. Aber Yolanda musste untätig in dieser Suppe sitzen. Sie hatte schreckliche Angst. Nicht so der kleine König, der sich in die Suppe stürzte und versuchte, alles zu beißen, was ihm vor die Zähne kam. »Ein Wunder«, sagte er. »Papi, ich bin Gott nahe.« Aber Papi schlief. Er schnarchte, während das Flugzeug in Luftlöchern absackte und taumelte und die Tragflächen wie verrückt zitterten. Yolanda war fest davon überzeugt, dass wenigstens eine der Tragflächen abbrechen würde. Zusammengehalten wurden sie nur von den Krampen der Vogelmenschen, und sie schienen sich vor dem Hintergrund des Himmels zu verbiegen. Teile des Papiers zerrissen im Wind, und Yolanda konnte das Strebengerippe erkennen. Dann kletterte einer der Vogelmänner hinaus und erneuerte die Tragflächenbespannung.  - Jerome Charyn, Der Tod des Tango-Königs. Zürich 2000

Vogelmensch (3)  

- Max Ernst

 

Tiermensch Vogel

 

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