ertrautheit   Im Monat August 1940 bin ich eingetreten in die Vertrautheit der Kiefernwälder. In dieser Epoche wurde jenen besonderen Arten von Hangars, überdachten Höfen, Markthallen ihre Möglichkeit zuteil, herauszutreten aus der Welt der Stummheit, des Todes, des Nicht-wahrgenommen-Werdens, auf daß sie einträten in die Welt des Worts, der Nutzbarmachung durch den Menschen, für seine moralischen Ziele — kurz: in den Logos, oder, wenn man die analogische Sprechweise vorzieht: in das Reich Gottes.    - Francis Ponge, Das Notizbuch vom Kiefernwald und La Mounine. Frankfurt am Main  1982 (zuerst 1952)

Vertrautheit (2)   Seine Frau, Pescha, war immer krank, sie spuckte Blut. Aber so krank sie war, schenkte sie ihrem Mann doch fünf Töchter, eine immer schöner als die andere. Sie waren alle ihrem Vater nachgeraten. Was kann ein Totengräber schon verdienen? Er wäre verhungert ohne sie - Pescha strickte Röcke und Jacken, und die Mädchen gingen schon im Alter von neun Jahren in Dienst. Zur Hütte gehörte ungefähr ein halber Morgen Land und die Familie zog dort Gemüse - Kartoffeln, rote Rüben, Karotten und Kohlrüben. Sie hielten auch Hühner und Gänse. Wie sah so ein Leben aus? Ich habe sie einmal besucht.Das Fenster ging auf die Gräber. Nahe der Hütte war eine Bretterbude - der Kühlschuppen genannt -, wo die Leichen gewaschen wurden. Wie man die ganze Zeit dem Tod ins Gesicht sehen kann, ist mir unbegreiflich. Wenn ich in den Monaten Nissan und Elul auf den Friedhof ging, mich an den Gräbern niederzuwerfen und zu beten, konnte ich den ganzen Tag kein Essen anrühren. Pescha nähte Leichentücher. Sie gehörte dem Beerdigungsverein der Frauen an. Ich habe gehört, daß bei einer Epidemie der Kühlschuppen voll mit Leichen war und es keinen Platz mehr gab. So nahm Mendel die Leichen in seine Hütte. Auch die Mädchen waren mit dem Tod vertraut. Sie waren heitere Geschöpfe, lärmten und lachten. Für ihre Eltern taten sie alles. Solche ergebenen Kinder waren schon damals selten.  -  Isaac Bashevis Singer, Der Totengräber. In: I.B.S., Leidenschaften. Geschichten aus der neuen und der alten Welt. München 1993. (zuerst 1975)

Vertrautheit (3)  Wahrhaft vertraut wird man nur unter Menschen, die im selben Maß diskret sind. Alles Übrige, Charakter, Bildung und Geschmack, zählt dabei wenig. Echte Vertrautheit beruht auf dem gegenseitigen Sinn für pudenda und tacenda. Dadurch läßt sie eine erstaunliche Freiheit zu; nun kann alles Übrige gesagt werden. Aber es gibt auch falsche Vertrautheit. Wenig ganze Freundschaften. Man ist sehr selten in allemFreund.Daher kommt es, daß man mehrere Freundehabenkannundvonsehr verschiedener Art. ›Er hat ebenso viele Freunde, wie er Menschen in sich hat.‹ Nicht den Vertrautesten hat er am liebsten. Ist es wahrscheinlich, daß man sich dem am meisten enthüllt (oder zu enthüllen glaubt), den man am meisten liebt? Man macht sich schöner für den Bevorzugten.

Zwei Menschen entzweien sich, weil sie etwas zu gut miteinander standen. Die oberflächlichen Beziehungen sind immer gut. Aber die Vertrautheit macht die leisesten Veränderungen spürbar. Man darf nicht vergessen, daß sie in einer erlaubten Indiskretion besteht (sei sie anerboten oder erbeten), deren Grenzen schwanken und die einen Eindruck hervorruft, der nichts weniger als beständig ist; die eine seltene Aufmerksamkeit verlangt, soll sie sich ohne Schaden und ohne geheime Folgen auswirken, die der Freundschaft sehr gefährlich wären.  - (pval)

Vertrautheit (4)  Die beiden waren so dick miteinander befreundet, daß Van Norden sie manchmal, um ihre Neugier zu befriedigen (und auch in der vergeblichen Hoffnung, sie durch diese Heldentat anzufeuern), während einem seiner Damenbesuche in seinem Wandschrank verbarg. Nachdem die Sache vorbei war, kam Bessie aus ihrem Versteck hervor, und sie besprachen die Angelegenheit beiläufig, das heißt mit einer fast völligen Gleichgültigkeit gegenüber allem außer der <Technik>. Technik war einer ihrer Lieblingsausdrücke, wenigstens bei den Diskussionen, denen ich den Vorzug hatte beizuwohnen. «Was ist falsch an meiner Technik?» fragte er. Und Bessie antwortete: «Du bist zu grob. Wenn du mich je rumkriegen willst, mußt du zarter werden.»

Wie gesagt, es herrschte ein so vollständiges Einvernehmen zwischen ihnen, daß ich oft, wenn ich Van Norden um halb zwei Uhr besuchen kam, Bessie auf dem Bett sitzend fand, während die Decken zurückgeschlagen waren und Van Norden sie aufforderte, seinen Penis zu streicheln . . . «Nur ein paarmal leise drüberstreicheln», sagte er, «damit ich den Mut finde, aufzustehen.» Oder er fordert sie auf, ihn anzublasen, oder wenn ihm das nicht gelang, ergriff er ihn selbst und schüttelte ihn wie eine Tischglocke, worüber beide sich fast totlachen wollten. «Ich kriege dieses Luder nie», sagt er. «Sie hat keine Achtung vor mir. Das habe ich davon, daß ich sie ins Vertrauen gezogen habe.»  - (krebs)

 

Kenntnis, intime

 

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