erstummen   Wir befanden uns am Ufer des Sees; und da wir vor kurzem mit Geographiestunden begonnen hatten, war der See das Asowsche Meer.

Plötzlich bemerkte ich mitten im Spiel, daß von der andern Seite des Asowschen Meeres jemand uns interessiert beobachtete. Die Art, wie ich mir dessen bewußt wurde, war denkbar seltsam; und noch viel seltsamer war, was dann geschah.

Ich hatte mich — das ließ meine Rolle zu — mit einer Handarbeit auf eine alte steinerne Bank gesetzt, wo ich den See überschauen konnte; und hier begann ich mit Gewißheit, ohne jedoch etwas zu sehen, die Anwesenheit einer dritten, in einiger Entfernung befindlichen Person zu spüren. Die alten Bäume und das dichte Gesträuch warfen einen ausgedehnten, angenehmen Schatten; und doch war alles in die Helligkeit dieser heißen, stillen Stunde getaucht. Alles war ohne Zweideutigkeit — vor allern aber die plötzlich in mir auftauchende Gewißheit: was ich auf der andern Seite des Sees erblicken würde, falls ich jetzt meine Augen erhöbe. Sie waren in diesem kritischen Augenblick auf meine Stickerei geheftet; und heute noch fühle ich meine krampfhafte Bemühung, nicht eher aufzuschauen, als bis ich mich genügend gesammelt hätte, um über mein weiteres Verhalten klar zu sein. Etwas Fremdes wartete auf mich — eine Gestalt, deren Recht, sich hier zu zeigen, ich ohne weiteres und leidenschaftlich verneinte. Ich weiß noch, daß ich alle Möglichkeiten erwog und mir klarzumachen suchte, daß nichts natürlicher sei als etwa die Anwesenheit eines Gartenarbeiters an diesem Ort, oder auch eines Boten, eines Briefträgers, eines Lehrlings aus einem Dorfladen. Diese Überlegung änderte weder etwas an meiner vorgefaßten Überzeugung noch — wie ich ohne hinzusehen wußte — an der Natur und Haltung unseres Besuchs, der doch sehr wohl eine von den erwähnten Personen hätte sein können und es dennoch ganz bestimmt nicht war.

Über die wirkliche Natur der Erscheinung wollte ich mich nicht eher vergewissern, als bis die kleine pochende Uhr in meiner Brust mir den rechten Augenblick dafür anzeigen würde. Inzwischen richtete ich mit einer nicht unbeträchtlichen Anstrengung meine Augen fest auf die kleine Flora, die ganz in meiner Nähe mit ihrem Spiel beschäftigt war. Mein Herz stand still bei der angstvollen Frage, ob sie wohl auch etwas sehe. Ich hielt den Atem an und wartete, ob sie aufschreien oder sonst ein Zeichen von Neugier oder Angst geben würde. Ich wartete, aber es erfolgte nichts; gleich darauf aber — und das war meines Erachtens weit unheimlicher — wurde mir deutlich, daß sie seit einer Minute völlig verstummt war und gleichzeitig, während sie weiterspielte, dem See den Rücken gekehrt hatte. So wenigstens fand ich sie, als ich mich schließlich nach ihr umsah in der festen Überzeugung, daß wir beide immer noch beobachtet würden. Sie hatte ein flaches Stück Holz vom Boden aufgehoben, das zufällig ein kleines Loch hatte, wodurch sie offenbar auf den Einfall gekommen war, ein zweites Hölzchen als eine Art Mast hineinzubohren, um so aus dem Ganzen ein Boot zu machen.

Solange ich sie beobachtete, war sie auffallend eifrig damit beschäftigt, dieses zweite Hölzchen an seinem Platze zu befestigen. Mein Argwohn wegen ihres Übereifers gab mir den nötigen Mut, mich nach ein paar weiteren Sekunden weiter vorzuwagen. So hob ich denn meine Augen — und sah, was ich sehen mußte.  - Henry James,  Bis zum Äußersten. Frankfurt am Main 1962 (zuerst 1898)

Verstummen (2)  Der Lehrer bewies mir jeden Tag, daß ich nichts wußte, oder daß, was ich wußte, nicht »verlangt« war: Mein sogenanntes Wissen war irgendein »Zeug«, nicht der »Stoff«; es kam nur aus mir und galt, in dieser Form, ohne eine von der Allgemeinheit beglaubigte Formel, niemandem. Ich starrte in die Höhlung, wo mir einmal, die Stirn erwärmend, die helle Welt der Zeichen, der Unterscheidungen, der Übergänge, der Verbindungen und der Gemeinsamkeiten geblaut hatte, und war allein mit der schwarzen Wolke in mir. Unvorstellbar, sie könnte sich auflösen; sie wurde schwerer, breitete sich aus, stieg in den Mundraum, die Augen, verschlug mir Stimme und Blick, was freilich nicht auffiel: In der Kirche hatte ich beim Gemeinschaftsbeten ohnehin meist nur die Lippen bewegt, und in der Schule wurde ich, da der Lehrer zugleich der Hauptlehrer war, bald weder gefragt noch überhaupt wahrgenommen. In dieser Zeit erfuhr ich, was es hieß, die Sprache zu verlieren - nicht nur ein Verstummen vor den andern; auch kein Wort, kein Laut und keine Geste mehr vor sich selber. Eine solche Stummheit schrie nach Gewalt; ein Einlenken war nicht denkbar. Und die Gewalt konnte sich, zum Unterschied von dem kleinen Feind, nicht nach außen kehren; der große Feind, er lastete im Innern, auf der Bauchhöhle, dem Zwerchfell, den Lungenflügeln, der Luftröhre, dem Kehlkopf, dem Gaumensegel, versperrte die Nüstern und die Gehörgänge, und das von ihm eingeschlossene Herz in der Mitte, es schlug, klopfte, pulste, pochte, schwirrte und blutete nicht mehr, sondern tickte, scharf, spitz und böse. - Peter Handke, Die Wiederholung. Frankfurt am Main 1992 (zuerst 1986)

Verstummen (3)

Verstummen (4)  »Pound eingesperrt in einem Irrenhaus in Washington; Hemingway ein populärer Romancier; Joyce tot; Gertrude Stein tot; Picasso zum Keramik-Fabrikanten geworden; Brancusi zu alt, um zu arbeiten; Hart Crane tot; Juan Gris, einst mein Lieblingsmaler, vor langen Jahren gestorben; Charles Demuth tot; Marcel Duchamps müßig in einem Dachboden in der Vierzehnten Straße ohne Telefon in New York; die Baronin tot; Peggy Guggenheirn in Venedig als Hausherrin einer Galerie für moderne Bilder, an deren Wert sie nicht glauben soll; Ford Madox Ford tot; Henry Miller verheiratet in der Nähe von Carmel in Kalifornien auf einem Berg, der eine halbe Meile hoch ist und von dem er fast nie herabsteigt; Djuna Barnes verarmt, ohne Adresse, nicht mehr schreibend; Carl Sandburg, abgewandt von der Mühe des Dichtens; Eugene O'Neül schweigend, verstummt.«   - William Carlos Williams, nach (wort)

 

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