Vernunftehe  »Freilich bin ich Witwe.« Wie zur Erklärung schlug sie sich auf den schwarzen Rock und begann dann herauszusprudeln: »Du weißt überhaupt nichts. Den ganzen Tag lang hockst du auf den Bäumen, um deine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken, und dann weißt du trotzdem nichts. Ich hab den alten Tolemaico geheiratet, weil mich meine Familie dazu gezwungen hat, jawohl: gezwungen. Sie sagten, ich kokettiere herum und könnte nicht ohne Mann bleiben. Ein Jahr lang war ich Fürstin Tolemaico, und das war das langweiligste Jahr meines Lebens, auch wenn ich mit dem Alten nicht länger als eine Woche zusammengewesen bin. Nie mehr werde ich meinen Fuß in eine ihrer Burgen, ihrer Ruinen und Rattennester setzen; mögen nur die Schlangen darin nisten! Von nun an werde ich dort bleiben, wo ich als Kind gewesen bin. Natürlich nur so lange, bis es mir leid wird, dann gehe ich wieder; ich bin Witwe und kann nun endlich tun und lassen, was mir Spaß macht. Allerdings habe ich schon immer getan, was mir Spaß macht; auch den Tolemaico hab ich geheiratet, weil mir das in den Kram paßte; es stimmt nicht, daß sie mich gezwungen hätten, ihn zu nehmen: Sie wollten nur, daß ich um jeden Preis heiratete, und da hab ich dann den gebrechlichsten Freier genommen, den es gab. So werde ich früher Witwe! sagte ich mir, und jetzt bin ich's auch!«   - Italo Calvino, Der Baron auf den Bäumen. München 1984 (zuerst 1957)

Vernunftehe (2)   Gleich ihrer Mutter entschied sich auch meine Mutter für die Pflicht und gegen die Lust. Sie hatte meinen Vater kaum gekannt, nicht vor der Hochzeit und auch nicht nachher, und mußte sich bisweilen fragen, warum dieser fremde Mann ausgerechnet in ihren Armen zu sterben wünschte. Man transportierte ihn auf einen Bauernhof, wenige Meilen von Thiviers; sein Vater kam jeden Tag mit der Kutsche, um ihn zu besuchen. Die Nachtwachen und Sorgen hatten Anne-Marie erschöpft, die Milch blieb aus, man übergab mich einer Amme aus der Gegend, und auch ich schickte mich an, zu sterben: an Darmkolik und vielleicht auch an Verbitterung. Meine Mutter war zwanzig Jahre alt, besaß keine Erfahrung und erhielt keine Ratschläge, sie zerriß sich zwischen zwei unbekannten Lebewesen, die im Sterben lagen; ihre Vernunftheirat entpuppte sich als Krankheit und als Trauer. - Jean-Paul Sartre, Die Wörter. Reinbek bei Hamburg 1968
 
 

Vernunft Ehe

 

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