erlieren

Verlustanzeige

Die Haare verlieren, die Nerven,
versteht ihr, die kostbare Zeit,
auf verlorenem Posten an Höhe
verlieren, an Glanz, ich bedaure,
macht nichts, nach Punkten,
unterbrecht mich nicht, Blut
verlieren, Vater und Mutter,
das in Heidelberg verlorene Herz,
ohne mit der Wimper zu zucken,
noch einmal verlieren, den Reiz
der Neuheit, Schwamm drüber,
die bürgerlichen Ehrenrechte, aha,
den Kopf, in Gottesnamen, den Kopf,
wenn es unbedingt sein muß,
das verlorene Paradies, meinetwegen,
den Arbeitsplatz, den Verlorenen Sohn,
das Gesicht, auch das noch,
einen Backenzahn, zwei Weltkriege,
drei Kilo Übergewicht verlieren,
verlieren, immer nur verlieren, auch
die längst verlorenen Illusionen,
na wenn schon, kein Wort
über die verlorene Liebesmüh,
aber woher denn, das Augenlicht
aus den Augen, die Unschuld
verlieren, schade, den Hausschlüssel,
schade, sich, gedankenverloren,
in der Menge verlieren,
unterbrecht mich nicht,
den Verstand, den letzten Heller,
sei's drum, gleich bin ich fertig,
die Fassung, Hopfen und Malz,
alles auf einmal verlieren,
wehe, sogar den Faden,
den Führerschein, und die Lust.

 - Hans Magnus Enzensberger, Der Untergang der Titanic. Eine Komödie. Frankfurt am Main 1981 (zuerst 1978)

Verlieren (2)  Ich will endlich Colsman besuchen, steige aus versehn in falschen bus, lande in Weende, nahms als zeichen, schönwarm, in den bergwald, sehr langsam, durch brusthohes dickicht, in den bergwald, steilab ins tal an bäumen mich halten, gefährlich und anstrengend, wieder wüst bergauf und bis Nikolausberg, an sich winzige strecke, da merke ich, dass ich meine brieftasche verloren habe, aus über arm gelegtem rock heraus, darin nur die 10 mark und Personalausweis und ein Segensspruch meiner mutter, kurz vor ihrem tode mir geschrieben und der brief den ich als kleines kind an meinen schutzengel aufgesetzt - weg und nie wieder flndbar. Will trotzdem morgen den weg wieder abgehn, wenns nicht regnet, aber es war kein weg! Aber was hat so etwas zu bedeuten? Es bekam mir vielleicht nicht schlecht, obwohl ich eben wieder fürchterlich speien musste, aber ich kann nichts mehr leisten, irgendetwas in mir ist gebrochen - und nun mein »segen« verloren, mein elixier und talisman. - Hans Jürgen von der Wense, Von Aas bis Zylinder, Bd. I. Frankfurt am Main 2005

Verlieren (3)   Ich verlor L. in einem Kino, in dem eine Panik ausbrach. Man wird es mir kaum glauben, aber in einem kleinen Raum - damals waren die Kinos noch nichts Großartiges - gab ein Mann in der hintersten Reihe einen so grotesken Stöhnlaut von sich, daß mehrere Zuschauer aufschrien. Dann erhoben sich andere, und schließlich geriet die ganze Zuhörerschaft in Aufruhr. Man drängte den Türen zu, stampfte, schrie um Hilfe, jedoch konnte niemand erfahren, was sich ereignet hatte. Feuer? Mord? Revolution? Niemand wußte es, und niemand wollte es wissen. Es handelte sich einfach darum, fortzukommen, sich wegzubewegen, zu rennen. Es war, was man im Sprachgebrauch der australischen Farmer und Rinderzüchter eine »stampede« nennt. Dies ist ein eindrucksvolles englisches Wort, weil es das Stampfen der Rinder klanglich zum Ausdruck bringt. Das Vieh setzt sich plötzlich ohne Grund in Bewegung. Es flieht, es stampft, ein unheimlicher Anblick, und wehe dem, der unter die Hufe gerät. - Richard Huelsenbeck, Reise bis ans Ende der Freiheit. Autobiographische Fragmente. Heidelberg 1984
 
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