erlegenheit    Werther ist im Begriff, Lotte eine Szene zu machen (und zwar kurz vor seinem Selbstmord), aber diese Szene nimmt durch die Dazwischenkunft Alberts eine plötzliche Wendung. Man schweigt und geht mit verlegener Miene im Zimmer auf und ab; man versucht sich an unverfänglichen Gesprächsthemen, die eines nach dem anderen wieder fallengelassen werden. Die Situation ist gespannt. Warum? Weil jeder von den anderen in seiner Rolle (als Liebender, als Gatte, als Einsatz im Spiel) wahrgenommen wird, ohne daß diese Rolle in der Unterhaltung Berücksichtigung finden könnte. Was so belastend wirkt, ist das verschwiegene Wissen: ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß: das ist die allgemeine Formel der Verlegenheit, nackte, eisige Scham, die sich die Bedeutungslosigkeit (der Worte) zum Zeichen nimmt. Paradoxon: das Nicht-Gesagte als Symptom ... des Bewußten. - (barthes)

Verlegenheit (2) Ich hatte eine alte Tante, die viel Geist besaß und deren Unterhaltung sehr interessant war, aber ihr Gedächtnis, unsicher und fruchtbar zugleich, ließ sie oft von einer Episode zur andern, von einer Abschweifung zur andern übergehen, so daß sie schließlich genötigt war, ihre Zuhörer zu Hilfe zu bitten. »Was wollte ich euch doch erzählen?« fragte sie, und oft hatten es auch ihre Zuhörer vergessen, was die ganze Gesellschaft in unsägliche Verlegenheit setzte. - Xavier de Maistre, Nächtliche Reise um mein Zimmer. In: Ders., Zwei Reisen um mein Zimmer. München 1968 (Winkler, Die Fundgrube 39, zuerst 1795)

Verlegenheit (3)  Einmal, als er fast in Verzückung vor einem riesengroßen Araraka stehengeblieben war, der sein Gefieder plusterte, sich verneigte und wieder aufrichtete, die höfischen Reverenzen des Papageienlandes zu vollführen schien, sah er die Tür eines kleinen Cafés aufgehen, das an die Bude des Vogelhändlers grenzte, und eine junge Negerin mit einem roten Kopftuch erschien, die Korken und Sand aus dem Lokal auf die Straße kehrte.

Sogleich war Boitelles Aufmerksamkeit zwischen dem Tier und dem Mädchen geteilt; er hätte wahrlich nicht sagen können, welches der beiden Geschöpfe er mit größerem Staunen und größerer Lust betrachtete.

Die Negerin, als sie den Kehricht des Gastraums hinausgefegt hatte, hob den Blick und war nun ihrerseits ganz geblendet von der Uniform des Soldaten. Sie stand da, ihm gegenüber, ihren Besen in Händen, als präsentierte sie vor ihm das Gewehr, während der Araraka sich immerfort verneigte. Diese Aufmerksamkeit machte den Soldaten nach wenigen Sekunden verlegen, und er ging mit langsamen Schritten weiter, damit es nicht aussähe, als flüchte er.  - (nov)

Verlegenheit (4) Unterwegs hatte ich André gebeten, zum Pinkeln kurz anzuhalten. Er war auch ausgestiegen, hatte mir zugesehen und mich gestreichelt, während ich da hockte. Es war mir nicht unangenehm gewesen, trotzdem hatte ich mich ein bisschen geschämt. Vielleicht lernte ich in jenem Augenblick, mich aus der Verlegenheit zu ziehen, indem ich meinen Kopf zwischen seine Beine schob und seinen Schwanz in den Mund nahm.  - Catherine Millet, Das sexuelle Leben der Catherine M. München 2001

Scham
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