Verhüllung (2) Verhüllt vom Ereignishorizont sind physikalische Unendlichkeiten unsichtbar.
Dieser angenehme Zustand ließ Penrose annehmen, dass es eine Art ›kosmische
Zensur‹ der Natur gibt, die alle Singularitäten oder
physikalische Unendlichkeiten, in denen die Naturgesetze nicht mehr gelten,
durch Ereignishorizonte vom Rest der Welt trennt. Ihre Auswirkungen werden durch
die extreme Krümmung des Raums und der Zeit eingeschränkt, die mit der Herausbildung
solcher Regionen hoher Dichte verbunden ist. Der Ereignishorizont hält sie quasi
in Quarantäne. - (bar2)
Verhüllung (3) Ico war einziger Sohn einer Korsettmacherin aus der Gegend. Man weiß nicht warum, nie ist bekannt geworden, wer eigentlich Icos Vater war. Der Junge lebte bei seiner Mutter, besuchte die Schule der Salesianer (als Schüler war er unterschiedlich gut, mal war er der beste, mal der schlechteste seiner Klasse), er hatte jedoch die Mißbildung, die so gut wie niemand bemerkte, von der er selbst aber vermutete, daß man sie sähe. In solchen Augenblicken des Argwohns verengten sich seine runden weißen Augen, und seine weiße, weibliche Haut wurde rot. Seine Mutter war, ohne recht zu wissen, warum, immer in Sorge um ihn; vielleicht, weil er ihr einziger Sohn war und keinen Vater hatte. Doch in Wirklichkeit wußte auch sie, daß ihr Sohn leicht verwachsen war und einige weibliche Züge besaß: seine Haut, seine Hände, die ausgesprochen winzigen Füße, den kleinen, schmalen, an sich wohlgeformten Körper mit den gerundeten und leicht wippenden Brüsten - all das war nicht normal. Von Kind an hatte die Mutter Ico stets fein und geschmackvoll gekleidet; oft steckte sie ihm eine Spange ins Haar.
Zum Ende des Jahres 1943 trat Ico als Freiwilliger bei den Schwarzen
Brigaden ein und wurde gleich eine Art Gruppenführer. Er organisierte mit
den Deutschen zusammen Säuberungsaktionen, und bei den schlimmsten Razzien
in der Gegend führte er das Kommando. Ico war berüchtigt. Er tauchte mal
hier, mal dort auf, oder blieb ganz verschwunden. Den Winter über trug
er einen kurzen und sehr engen Mantel, einen kanariengelben Schal aus Angorawolle
und einen tief eingedrückten Borsalino mit breiter Krempe, der ein wenig
schräg auf dem rechten Ohr saß. Nie trug er Uniform; er war der einzige,
der keine trug, und seine Vorgesetzten gestatteten es ihm, weil Ico trotz
seiner Jugend ein sehr tüchtiger Spürhund war. Er hatte viel Geld, woher,
wußte man nicht; und wenn er nicht gerade zu Einsätzen in der Ebene oder
in den Bergen verschwand, hielt er sich fast immer beim Herrenschneider
auf, rauchte und probierte Kleidung an. Von einem bestimmten Zeitpunkt
an waren an seinem dünnen Handgelenk eine goldene Patek-Philippe, ein Goldarmband,
und an einem Finger ein goldener Ring mit einem Saphir zu sehen. Er hatte
auch ein Zigarettenetui aus Gold. Niemand wußte, wo das alles herkam; er
blieb stets für sich und aß im Restaurant allein. - Goffredo Parise,
Alphabet
der
Gefühl
e.
Berlin 1997 (zuerst 1972, 1982)
Verhüllung (4) Eines Tages, nachdem
fast drei Jahre vergangen waren, legte sich Rottenkopfs Geliebte ein Tuch über
Schultern und Gesicht, das ihren Körper vom oberen Brustansatz abwärts unbedeckt
ließ, sodaß Rottenkopf nur jene Teile ihres Körpers vor sich liegen sah, die
er am meisten begehrte und so sehr er sie auch bat, sie ließ ihm nur die Wahl,
aufzuhören oder das Tuch liegen zu lassen. So ging das einige Zeit und immer
fand Rottenkopf Schultern, Hals und Gesicht seiner Geliebten schon mit einem
Tuch bedeckt, ehe er sich ihr zuwandte, um mit ihr zu schlafen. Das Mädchen
wollte seine neue Gewohnheit nicht aufgeben und trieb es sogar noch weiter.
Es stellte sich ein Hemd her, das folgendermaßen aussah und das es stets trug,
wenn Rottenkopf sich ihm zuwandte und es begehrte, so als habe es seine Begierde
geahnt. Eine Kapuze bedeckte den Kopf ganz, ging auf den Hals über, wo sie zu
beiden Seiten des Halses etwa mundgroße Löcher aufwies, bedeckte dann Schultern,
Oberkörper und Bauch und ließ nur die Brüste unbedeckt, hatte auf den Hüften
zwei mundgroße Löcher, eine Öffnung für After und Schoß, und bedeckte dann die
Beine ganz bis ans Knie. Oft, wenn Rottenkopf an seinem Schreibtisch saß und
wie früher versuchte, sich das Aussehen, das Lächeln, die Augenfarbe, den Mund
seiner Geliebten vor Augen zu führen, konnte er sich nicht erinnern. Seine Geliebte
aber wünschte bald, er wolle sie nur noch so heben: sie hatte eine Wand aus
Tuch konstruiert, in die eine Öffnung in Höhe von Rottenkopfs Glied eingelassen
war und sich außerdem zwei Öffnungen für ihre Brüste befanden. So oft Rottenkopf
sie auch begehrte, stets befand sie sich hinter der Wand und er konnte sie nur
durch diese Wand lieben. So ging das eine Zeit lang. -
(baer)
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