Verfehlen  Mein Kopf saß wie eine riesige Luftblase auf den Schultern, bereit, augenblicklich emporzuschweben. Ich hatte Angst, ihn zu bewegen oder die Augen zu öffnen, weil ich fürchtete, er werde dann ins Nichts entschwinden. Nach und nach, während ich angstvoll dalag, kehrte das Gefühl der Festigkeit in meinen Kopf zurück, und ich schlug die Augen auf. Meine Arme umschlangen Heien, und sie lag auf der Seite und hatte mir das Gesicht zugewandt; sie atmete leise und regelmäßig in tiefem, ruhigem Schlaf - aber sie atmete! Wir waren noch lebendig, und zwar sehr! Ich löste die Umschlingung meiner Arme und hob meine Handgelenke, um sie sehen zu können. Das Blut war geronnen und bedeckte die flachen Schnitte mit schmalen, scharzen Graten. Das Bluten hatte vollständig aufgehört. Seltsam genug - ich fühlte mich äußerst beschwingt und war glücklich, am Leben zu sein. Es war, als hätte ich einen »billigen« Drink intus; so hatte ich mich gefühlt, wenn ich, viele Jahre zuvor, eine Unterlippe voll Schnupftabak genossen hätte. Mein Kopf war leicht, und mir war ein wenig schwindlig, obwohl ich noch im Bett lag. Ich weckte Helen, indem ich sie auf den halboffenen Mund küßte. Einen Moment lang blickten ihre Augen erschrocken, doch dann erstrahlten sie hellwach, wie sie es immer taten, wenn sie aufwachte. Sie lächelte scheu.

»Ich schätze, ich habe wohl nicht tief genug geschnitten«, sagte ich reumütig. »Ich muß die Schlagadern überhaupt verfehlt haben.«

»Wie fühlst du dich, Harry?« fragte Helen. »Ich fühle mich irgendwie wundervoll, beinahe schwindlig.«

»Ich fühle mich ein bißchen albern. Und zugleich besser als seit Monaten. Im Kopf ist mir auch ein bißchen leicht zumute, und ich fühle mich betrunken. Nicht gin-betrunken, sondern trunken vom Leben.«    - Charles Willeford, Sperrstunde. Berlin Frankfurt am Main 1992

 

Treffsicherheit

 

  Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme