Das chinesische Zeichen Gu stellt eine Schüssel dar, in deren Inhalt Würmer wachsen. Das bedeutet das Verdorbene. Das ist dadurch gekommen, daß die sanfte Gleichgültigkeit des unteren Urzeichens mit der starren Trägheit des oberen Urzeichens zusammengekommen ist, so daß die Verhältnisse in Stagnation gerieten. Da also eine Verschuldung vorliegt, so enthalten diese Zustände die Aufforderung zu ihrer Beseitigung. Daher ist die Bedeutung des Zeichens nicht einfach »das Verdorbene«, sondern »das Verdorbene als Aufgabe«, die »Arbeit am Verdorbenen«.
Was durch Schuld von Menschen verdorben ist, kann durch Arbeit von Menschen
wieder gutgemacht werden. Es ist nicht unabänderliches Geschick, wie während
der Stockungszeit, sondern eine Folge von Mißbrauch der menschlichen Freiheit,
was den Zustand des Verderbens herbeigeführt hat. Deshalb ist die Arbeit an
der Besserung aussichtsvoll, weil sie im Einklang mit den Möglichkeiten der
Zeit steht. Nur darf man vor Arbeit und Gefahr - symbolisiert durch das Durchqueren
des großen Wassers - nicht zurückschrecken, sondern muß energisch zugreifen.
Das Gelingen hat jedoch zur Vorbedingung die rechte Überlegung. Das ist ausgedrückt
in dem Zusatz: »Vor dem Anfangspunkt drei Tage, nach dem Anfangspunkt drei Tage.«
Erst muß man die Gründe kennen, die zum Verderben geführt haben, ehe man sie
abstellen kann: daher Achtung während der Zeit vor dem Anfangspunkt. Und dann
muß man sorgen, daß das neue Geleise sich sicher einfährt, so daß ein Rückfall
vermieden wird: daher Achtung auf die Zeit nach dem Anfangspunkt. An die Stelle
der Gleichgültigkeit und Trägheit, die zum Verderben geführt haben, müssen Entschlossenheit
und Energie treten, damit auf das Ende ein neuer Anfang folgt. - (
ig
)
Verdorben (2)
Die schaden können und es doch nicht tun, Die erben stets mit Recht des Himmels Gaben Der Sommer liebt des Sommers lichte
Blüte, Süßes, das schlecht ward, schmeckt am herbsten immer, |
- Shakespeare
Verdorben (3) Die Cantianille, in einem Kloster von Mont-Saint-Sulpice untergebracht, wurde, sobald sie ihr fünfzehntes Jahr erreicht hatte, von einem Priester geschändet, der sie dem Teufel gelobte. Dieser Priester selbst war seit seiner Kindheit durch einen Geistlichen verdorben worden, der an einer Sekte von Besessenen teilnahm, die an demselben Abend des Tages gegründet wurde, wo Ludwig der Sechzehnte guillotiniert wurde.
Was sich in diesem Kloster ereignete, wo mehrere Nonnen, offenbar durch Hysterie erbittert, sich den erotischen Verrücktheiten und gottesschänderischen Rasereien der Cantianille anschlossen, erinnert zum Täuschen an die Prozesse der Magie von früher, an die Geschichten von Gaufredy und der Madeleine Palud, des Urbain Grandier und der Madeleine Bavent, des Jesuiten Girard und der La Cadière, Geschichten, über welche es vom Gesichtspunkte der Hysteroepilepsie einerseits und andererseits des Satanismus aus viel zu sagen geben würde. Immerhin wurde die vom Kloster fortgeschickte Cantianille durch einen bestimmten Priester der Diözese, den Abbé Thorey, dessen Verstand diesen Praktiken nicht wohl widerstanden zu haben schien, der Teufelsaustreibung unterzogen. In Auxerre gab es bald solche skandalöse Szenen, solche diabolische Krisen, daß der Bischof dazwischentreten mußte. Cantianille wurde aus dem Land gejagt, der Abbé Thorey wurde disziplinariter betroffen, und die Angelegenheit ging nach Rom.
Merkwürdig ist auch, daß der Bischof, entsetzt
von dem, was er gesehen hatte, seine Demission gab und sich nach Fontainebleau
zurückzog, wo er noch in dem Entsetzen zwei Jahre
hernach starb. - Joris-Karl Huysmans, Tief unten. Zürich
1987 (zuerst 1891)
Verdorben (4) Uralt ist der Zorn der Biedermänner auf die Literatur. Seit Jahrhunderten beschuldigt man sie des Betrugs, der Korruption, der Gotteslästerung. Oder nennt sie nutzlos und verderblich. Entheiligend und pervers wie sie ist, verfuhrt und stiftet sie Verwirrung. Numinos und wankelmütig, zögert sie nicht, sich zum Schmuck ihrer Fabeln der Götter zu bedienen. Aber dank jener köstlichen Ironie, die ihr Schicksal ausmacht, vermag nur sie allein die Größe und den Ruhm jenes Gottes zu feiern, den sie zur literarischen Figur, zur Hypothese, zur Hyperbel entwürdigt und geadelt hat. Der furchtbare Blitzeschleuderer, einmal eingesponnen in das feine Netz der Rhetorik, hört vollkommen auf zu existieren; er verwandelt sich in Erfindung, in Spiel, in Lüge.
Verdorben wie sie ist, versteht sie, Frömmigkeit zu heucheln; von prunkender
Ungestalt, besteht sie auf der sadistischen Strenge der Syntax; in ihrer Irrealität
bereitet sie uns betörende und unversehr-bare Epiphanien der Täuschung. Bar
jeglichen Gefühls, benutzt sie alle Gefühle. Ihre Überzeugungskraft entsteht
aus dem gänzlichen Mangel an Aufrichtigkeit. Erst wenn sie ihre eigene Seele
fortwirft, findet sie ihr eigenes Schicksal. - Giorgio Manganelli, Literatur
als Lüge. Nach
(man)
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