agabund Er war ein Vagabund geworden. Da gibt es die Landstreicher und die Stadtstreicher, die Pennbrüder und die Clochards, da gibt es die Zigeuner und die Tartaren, die Provos und die Gammler, und zwar Freizeitgammler, Wochenendgammler und ausgesprochene Gammler. Es gibt Strolche und Herumtreiber, Stromer und Globetrotter, Bummler und Drückeberger, Eckensteher und Arbeitsscheue, Hallodris und Müßiggänger, Tagediebe und Taugenichtse. Der eine wandert ganz alleine, der andere wandert mit anderen zusammen, entlassene Soldaten, räuberische Banden, falsche Mönche, richtige Pilger, fahrende Studenten: Beatniks und Hippies, Blumenkinder und Pflastertreter, Walz-und Tippelbrüder, Streuner und Tramps.
Es gibt wandernde Bettler und bettelnde Wanderer, wandernde Verbrecher und verbrecherische Wanderer, bettelnde Verbrecher und verbrecherische Bettler, Krankenhausbummler und faule Kunden, Scherenschleifer und Zinngießer, Hausierer und Saisonarbeiter. Da ist der nichtseßhafte Mensch, von dem Professor Stumpft in einem »Beitrag zur Neugestaltung der Raum- und Menschenordnung im Großdeutschen Reich« sagt, es seien geistige Störungen die Ursachen der Entwurzelung von Wanderern. Der Schizophrene nimmt Stock und Hut und schreitet über die Wiese durch das Tal, der Zyklothyme zieht seinen Lodenmantel an und stapft durch den Schnee über die Berge, der Epileptiker aber, mit Stock und Hut und Lodenmantel, fällt in die Wiese und stürzt in den Schnee. O nein, auch Jean-Jacques Rousseau hätte im Großdeutschen Reich nicht ungestraft wandern und saumselig sein dürfen.
Der eine ist auf der Walz, und der andere ist auf Montage, der eine ist auf Schusters Rappen, und der andere ist auf Rädern. Die Zigeuner sitzen auf ihren Komödienwagen und sprechen jenisch, die Landfahrer sitzen auf ihren Karren und sprechen Rotwelsch. Der eine wandert vorübergehend, und der andere wandert dauernd. Die vorübergehend Wandernden sind die episodischen, und die dauernd Wandernden sind die ewigen Wanderer. Da gibt es die Dauerwanderer mit Arbeitsplatz, und es gibt die Vagabunden ohne Arbeitsplatz. Das sind die Schalksnarren und die fahrenden Sänger, die schreibenden Abenteurer und die abenteuernden Schreiber, die Wahrsager und Reimsprecher, die Wunderredner und die Wunderdoktoren, die mit leeren Flaschen herumreisen, aus denen der großmächtige Merkurius steigt.
Da ist auf der einen Seite Angelus Silesius, der ehrgeizige Cherubinische
Wandersmann, der bis vor den Thron des lieben Gottes gegangen war, um die Erhabenheit
der ganzen Schöpfung zu sehen; da ist auf der anderen
Seite Johann Gottfried Seume, der bescheidene Philosoph
des Spazierengehens, der von Leipzig nach Syrakus
gegangen war, nur um sich die Füße ein wenig zu vertreten; und da ist in der
Mitte Jean-Jacques Rousseau, der hin und her irrende Vagabund, der bis ans Ende
seines Lebens gegangen und doch nie irgendwo angekommen
ist. - Ludwig Harig, Rousseau. Der Roman vom Ursprung der Natur im Kopf.
München 1981 (zuerst 1978)
Vagabund (2) Diese Unglücklichen - wir nennen sie Exiliaten - haben überhaupt keine Heimat. Vorsichtig ausgedrückt, sind es phantasievolle Geschöpfe, denn fast jeder wußte mir etwas anderes über die Geschichte seines Stammes zu berichten. Später hörte ich, sie hätten ihren Planeten einfach verschleudert, da sie aus schnöder Habgier Raubbergbau getrieben und verschiedene Mineralien exportiert hatten. In ihrem Förderwahn zerwühlten sie das Innere des Planeten so, daß es ganz verwüstet wurde; schließlich blieb nur eine riesige Höhle, die eines Tages unter ihren Füßen zusammenbrach. Manche behaupten auch, die Exiliaten hätten sich einfach auf einer ihrer Sauftouren verirrt und nicht mehr heimgefunden. Was wahr daran ist, läßt sich nicht mehr eindeutig klären, jedenfalls sieht niemand diese interstellaren Vagabunden gern; wenn sie auf ihrem Zug durchs Vakuum an einefn Planeten vorbeigekommen sind, so zeigt sich bald, daß irgend etwas fehlt: Entweder ist ein wenig Luft verschwunden, oder ein Fluß ist plötzlich ausgetrocknet, oder man bekommt die Zahl der Inseln nicht mehr zusammen.
Auf Ardenurien haben sie, wie es heißt, sogar einen ganzen Kontinent stibitzt,
zum Glück einen unbebauten, da er vereist war. Sie lassen sich gern zur Reinigung
und Regulierung von Monden anheuern, doch vertraut ihnen kaum einer solch verantwortungsvolle
Aufgaben an. Ihre Kinder werfen den Kometen Steine nach, reiten auf morschen
Meteoren umher - mit einem Wort, man hat lauter Scherereien mit ihnen. -
(
lem
)
Vagabund (3) Ich spüre, wie aus meiner
Erinnerung die Häuserschneisen aufsteigen, die endlich die lange Perspektive
der Straße flankieren, die betäubte Leere, die bäuerliche
Benommenheit der Straße, wenn der Kirchturm zwölfe schlägt, die knisternde,
auf den Hecken hockende Hitze, das wilde Brummen der Sommerfliegen, das in unserer
aseptischen Zeit vergessen ist, aber an den Gedichten
der Illuminations haftet wie ein Glockenschwengel,
die Hähne, die als einzige die lange Mittagsleere durchbrechen, den wüstenhaften
Geruch des Staubs und des gedroschenen Getreides, das aufrecht wie ein Mann
vor den weit geöffneten Scheunen steht, den entgegenwehenden Duft heißen Brots,
vermischt mit der Kellerkühle frisch geschrubbter Fliesen, die bereits die Schläfen
und die Nase in Beschlag nimmt, den sonnübertünchten
Bürgersteig zwischen den grauen Fassaden, auf dem man vor den sich schweigend
verkriechenden und vor sich hin brütenden Fenstern die letzten Schritte tut
wie ein müßiger Vagabund. - (
grac2
)
Vagabund (4) Das Leben des Vagabunden hat ja auch seine Reize: nicht Sklave der Stunden, des Zwecks, der Konvention zu sein, nicht in vorgeschriebener Richtung zu schreiten. Die Zeit zwischen einer Gerichtsverhandlung und einer Universitätsvorlesung auf der Bank eines öffentlichen Parks oder am Flußufer verbringen; einer Auktion beiwohnen, stehenbleiben, um den zu schwer beladenen Wagen zuzuschauen, die sich nicht aus den Geleisen herausarbeiten können; die Leichen in der Morgue besuchen, die melancholischen Abendzüge sich entfernen sehen; mit den Maurern reden, die Ausrufe der Zeitungsverkäufer anhören, in den alten Büchern an den antiquarischen Ständen der friedlichen Quais blättern, auf dem grünen Samt der Museen dahindämmern, den geduldigen und täppischen Bären und diesen Riesenkindern, die die Elefanten des Jardin des Plantes sind, Brotstücke zuwerfen. Zuweilen projiziert sich plötzlich ihr Bild in einer Straßenvertiefung oder auf dem hellen Spiegel des Trottoirs. Um dieser Vision zu entgehen, trat er in ein Café oder in eine Konditorei ein.
«Wenn ich eine alte Frau Törtchen essen sehe, scheinen
sie mir unnütz vergeudet.» - Pitigrilli, Kokain.Reinbek bei Hamburg 1988
(zuerst 1922)
Vagabund (5) Jemand starrte mich an. Ich hielt den Kopf gesenkt. Ich hob den Kopf: es war ein etwa dreißigjähriger Vagabund, auf dem Kopf hatte er ein unter dem Kinn zusammengeknotetes Taschentuch und trug eine breite gelbe Motorradbrille. Aus großen Augen starrte er mich lange an. Er machte in der Sonne einen unverfrorenen, einen sonnenhaften Eindruck. Ich dachte: »Vielleicht ist es Michael, der sich verkleidet hat!« Das war kindisch. Dieser absonderliche Vagabund war mir noch nie begegnet.
Ich überholte ihn und blickte mich nach ihm um. Er musterte mich völlig unbefangen.
Ich bemühte mich, mir sein Leben vorzustellen. Dieses Leben war nicht zu verleugnen.
Ich konnte selbst ein Vagabund werden. Er jedenfalls war es, er war es
durch und durch und war nichts anderes: er hatte dieses Los gezogen.
Das Los, das ich gezogen hatte, war heiterer. Auf dem Rückweg von der
Garage fuhr ich die gleiche Strecke. Er stand noch immer da. Wieder starrte
er mich an. Ich fuhr langsam vorbei. Es fiel mir schwer, mich von ihm zu trennen.
Wie gern hätte ich auch so abstoßend ausgesehen, so sonnenhaft wie er, anstatt
einem Kind zu gleichen, das niemals weiß, was es will. -
(bar)
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