topie   Der Körper aus einer feineren Materie geschaffen, und die Nahrungsstoffe so subtil, aus Pflanzen allein, daß sie vollständig für den Unterhalt des Körpers aufgebraucht würden, also keinen Rest ließen. Die Verdauung mit ihren unschönen Umständen bliebe also aus, und die Absonderungen geschähen nur durch Ausatmung von Wasserdämpfen und reinen Gasen.

Das wäre reines Leben, um damit zu beginnen. Die Pflanzen, von denen man lebte, brauchten nicht gedüngt zu werden, und Vieh wäre nicht vorhanden, da die Bäume Milch, Früchte, Honig, Wein gäben. Die Luft hätte natürlich eine andere Zusammensetzung, die Gesetze der Schwere wären andere, so daß man sich durch Atemholen, das die Luft des Körpers verdünnt und sein eigentliches Gewicht vermindert, bewegen könnte. Der Tag hätte neun Stunden, und das Leben reichte nur dreißig Jahre. Zwei Stunden Arbeit, eine Stunde Mahlzeit, zwei Stunden Unterricht und Vergnügen, vier Stunden Schlaf.

Die Menschen wohnten in reinen schönen Hütten mit offenem Dach, damit sie nachts die Sterne wandern sehen könnten.

Sie lebten in Paaren, Mann und Weib, und wären glücklich, einander nahe zu sein; aber sie gebären keine Kinder, denn es wäre nur eine Station, die nächste nach dem Hinscheiden aus dem Erdenleben. Diese ganze Station bestünde aus Inseln, die schwämmen, in etwas, das Luft oder Wasser sein könnte. Die Berge bestünden aus allen schönen Steinarten, wären aber nur Gleichnisse. Da die Inseln umherschwämmen, änderte sich die Aussicht immerfort; Reisen würden deshalb unnötig. Auf jeder Insel gäbe es eine Burg, auf der Wächter, Helfer und Lehrer wohnten. Hier lebten nun gute Menschen, die das Erdenleben beendigt und die Prüfungen so ziemlich bestanden hätten. Sie hätten es schwer im Leben gehabt, wären in Laster und Verbrechen herabgezogen worden, hätten aber einen solchen Abscheu vor dem Bösen bekommen, daß sie sich dem Guten zugewandt hätten. Von dem menschlichen Tierkörper und von Bösem und Unwahrem befreit, wären sie schön und rein. Sie wären halb durchsichtig, so daß sie nichts verbergen noch lügen könnten. Hier ruhten sie aus nach den Schrecken des Lebens.

Die Arbeit mit dem Garten wäre nur ein schönes Spiel, und geschähe, während sie am Strande wanderten, unter Laubgewölben, unter Blumen und singenden Vögeln von höherer Schönheit, als wir uns denken können. Sie würden jetzt von Lehrern über den Sinn ihres verflossenen Erdenlebens unterrichtet. Warum sie von den Eltern geboren worden seien, unter solchen Verhältnissen. Sie erführen die Ursachen dafür, daß sie solch einen Umgang, gerade diese Lehrer hatten. Das ganze seltsame Gewebe des Lebens würde aufgetrennt, und sie sähen die Fäden in ihrem Schicksal. Warum sie die Handlung begehen mußten, die sie mißbilligten; warum es anderen erlaubt war, sie ungerecht zu quälen.

Mit jeder Erklärung löste sich ein Band der Bitterkeit; Licht und Versöhnung breitete einen stillen Schein über die furchtbare Vergangenheit. Sie verziehen in ihrem Herzen ihren Feinden, ja segneten sie zuweilen. Alles, auch das Entsetzlichste, erschiene in einem versöhnenden Licht; und damit, nur damit würden ihre häßlichen Erinnerungen, von denen sie niemals glaubten frei werden zu können, ausgelöscht.

Da weinten sie vor Freude und gerieten in Entzückung. Das hätten sie sich nicht denken können: daß es eine Versöhnung mit der Vergangenheit gäbe. Und bei Sonnenaufgang lobten sie Gott, der ihnen diese Gnade gewährt hat; denn früher hatten sie sich nur gewünscht, alles zu vergessen, das sie erlebt. Hier gäbe es keine Bösen und Unwahrhaften. Sobald aber jemand die Neigung zeigte, zum Alten zurückzukehren, würde er entfernt, entweder durch einen schmerzfreien Tod oder durch Zurücksendung nach Armageddon, wie sie die Erde hießen. Unterricht in den sogenannten Welträtseln, der Kosmogonie, Theogonie, Philosophie oder den Wissenschaften könnten sie hier nicht erhalten, denn dazu reichte ihr Verstand nicht aus. Aber eines erführen sie: daß alles, was sie an Wissenschaft auf Erden gelernt haben, falsch war, zur Strafe dafür, daß sie wie Gott wissend werden wollten.

Dieses wäre die Ruhestation, es wären die Sommerferien nach dem ersten Tod; und die Tage würden ihnen so kurz wie ein Fest. Sie sehnten sich nach dem morgigen Tag, um mehr von ihrem Schicksal zu erfahren und dadurch sich mit der Vergangenheit auszusöhnen; die doch der einzige Weg zu Friede und Seligkeit war, zur Wiedergewinnung des Glaubens an den guten Gott und zur Hoffnung auf ein besseres Leben. Mit dreißig Jahren entschliefen sie eines Nachts, ohne es zu wissen, um an andern Orten weiter erzogen zu werden, in Weisheit, Liebe, Glauben und Hoffnung! Ist es nicht sowohl verlockend wie befriedigend, sich "Die Toteninsel" so zu denken?  - (blau)

Utopie (2)  »Und Gott? Was macht Ihre Theokratie ohne diesen Zentralgedanken aller Theokratien?«

»Wie alles übrige, Arésio, ist auch die Existenz Gottes relativ. In Lateinamerika komme ich nicht darum herum, dieses Problem zu prüfen. Gott existiert vorläufig, weil die Lateinamerikaner, mit denen ich es zu tun habe, in dieser Hinsicht Fragen stellen. Aber tatsächlich sind es die großen Staaten, die die großen Wahrheiten durchsetzen; nur ein totaler Staat kann uns aus der Sackgasse der privaten Wahrheiten herausziehen, deren Zusammenstoß die gegenwärtige Unordnung hervorruft. Jawohl, denn wenn Wahrheit die Behauptung ist, die eine Gruppe von Menschen aufstellt, so ist der Staat eine organisierte Gruppe von Wahrheiten. Aus dem Leben ergibt sich die Wahrheit, und aus beiden entsteht der Staat.«

»Aber Adalberto, es sieht ja so aus, als träumten Sie von einer Welt, in der alle Menschen auf die gleiche Weise handeln und denken.«

»Ja, warum sollte ich nicht davon träumen, wenn die Meinungsverschiedenheiten bis heute nur Leiden und Unordnung hervorgebracht haben? Außerdem träumen alle davon, aber sie haben nicht den Mut, das zuzugeben. Ich habe diesen Mut. Im wahren Staat wird es kein Rätsel, kein Geheimnis mehr geben, und auf alle philosophischen Fragen werden von Seiten aller Individuen haargenau gleiche Antworten gegeben werden. Ich kann mir nicht vorstellen, Arésio, daß Sie nicht davon träumen, wie gut das Leben in einem wahren Staat sein wird, wo es nicht mehr den leichtesten Schatten von Unordnung, von Gegensätzen und Zusammenstößen gibt. Und ich gehe noch weiter: ich sage Ihnen, in der Zukunft wird die Auffassung vom Staat durch die Auffassung vom Weltall ersetzt werden.«

»Und wie wollen Sie diese vollkommene Ordnung des wahren Staates herstellen? Durch Gewalt und Unordnung der Revolution?«

»Jawohl, zumindest im Anfang. Der Aufbau des wahren Staates muß durch die Revolution erfolgen, aber ihre Fortsetzung und Festigung wird Aufgabe der Erziehung, einer totalen Erziehung sein. Diese wird so vollkommen sein, daß jeder Mensch einer bestimmten Altersstufe auf haargenau gleiche Weise denken wird wie ein anderer ähnlichen Alters.«

»Und der Generationskonflikt?«

»Den wird es nicht mehr geben, weil jede Altersgruppe unabhängig voneinander arbeiten wird.«

»Und die ganz persönlichen Träume und Gedanken jedes Individuums?«

»Auch das wird es nicht mehr geben. Alle Gedanken aller Individuen werden um die Interessen des Staates kreisen, da außerhalb seiner nichts wahr sein wird. Ob Sie es wollen oder nicht, Arésio, die Welt marschiert immer rascher auf den Sozialismus zu. Der Tag wird kommen, an welchem die totale Organisation des Staates auf die eine oder andere Weise triumphieren wird, der Kapitalismus geht ebenfalls auf dieses Ziel zu. Es wird dann Gesetze für das Denken, für das Handeln, für das Fühlen, für die Freuden, für die Urteile, für die Individualitäten und sogar für die Überraschungen geben. Da schneiden Sie eine Grimasse, nur weil ich von Gesetzen gesprochen habe. Vielleicht erkennen Sie, daß ich nicht phantasiere, wenn ich das Wort austausche und sage, daß es eine für jede Lebenslage festgelegte und vorausbestimmte Verhaltensnorm geben wird. Ist dies nicht der Traum des Menschen seit so langer Zeit? Warum gibt es religiöse und gesellschaftliche Riten, wenn nicht, um etwas Ordnung in die Unordnung des Lebens zu bringen? Wenn uns ein Verwandter stirbt, so drücken uns alle Menschen ihr Beileid aus, um doch irgend etwas sagen zu können. So geht es mit allem, und die beste Gesellschaft wird diejenige sein, die nichts dem Zufall und dem individuellen Belieben überläßt. Es läßt sich mithin nicht leugnen, daß der Fortschritt der Menschheit in der Übertragung der kleinen auf die großen Wahrheiten liegt, der Gruppenwahrheiten und -Interessen auf die des Staates. Und deshalb sage ich immer, daß der Name Menschheit einer Sache gegeben wird, die noch nicht existiert. Die wirkliche Existenz der Menschheit wird sich erst regen, wenn die erste Wahrheit erscheint, die von keinem Menschen Widerspruch erfährt. Von da an wird sich die Wahrheit ausbreiten, und alles wird darauf hinauslaufen, daß sie zur Gänze von allen angenommen wird, denn alles, was existieren wird, wird man einmütig als eine einzige Sache anerkennen, da ja der Gedanke eines Menschen der Gedanke aller, der Gedanke des Staates sein wird.«   - (stein)

Utopie (3)

- N. N.

Utopie (4)  Der erträumte Weltfrieden wird in einem großen Cirkus unterzeichnet werden in einer jener Nächte, da sich über der hohen Menschenpyramide alle Fahnen in echter Verbrüderung entfalten werden.

Die Welt wird schließlich den humoristischen Sinn des Lebens erkennen und wird am Ende ein großer Cirkus sein, offen und ehrlich, ohne jeden Dünkel, in welchem die »Regisseure« Ministerröcke tragen werden, von denen sie die Orden entfernt haben werden, die sie heute noch schmücken, und die große wunderliche und ungereimte Farce der Welt wird ihren wahren Rhythmus und den ihr eigenen Stil gefunden haben.

Ich habe gesprochen.

Und jetzt, Maestro, Musik! - Rede des Cirkuschronisten von seinem Trapez herab, nach  (cirkus)

 

Wünsche Zukunft Befüerchtung

 

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