rzeugung   Der Glaube an die generatio spontanea trieb neue Blüten. Oken orakelte in seinem Lehrbuch der Naturphilosophie (1809—1811): »Der Urschleim, aus dem alles Organische erschaffen worden ist, ist der Meerschleim.« Aus dem Urschleim entstehe zunächst ein Urbläschen und »das schleimichte Urbläschen heißt Infusorium. Besteht die organische Masse aus Infusorien, so muß die ganze organische Welt aus Infusorien bestehen, Pflanzen und Tiere können nur Metamorphosen von Infusorien sein.«

1673 hatte Antony van Leeuwenhoek der Royal Society in London die Entdeckung unzähliger sich bewegender winziger animalcula in einem Tropfen Teeaufguß gemeldet. Linné hatte die mikroskopischen Wesen als Chaos infusorium seinem System eingegliedert. Inzwischen galten sie als augenscheinlicher Beweis für eine ständig stattfindende Urzeugung. Der in Zusammenhang mit Linné schon zitierte Johann Gottfried Bremser war überzeugt, die spontane Entstehung von Nelkenwürmern (Caryophyllaeus mutabilis L.) persönlich in einem Karpfen belauscht zu haben. In seinem kapitalen Werk Über lebende Würmer im lebenden Menschen (1819) stand:

»Wenn Würmer wirklich von außen in den Nahrungskanal kommen, und einige Zeit lang parasitisch (m) in demselben fortleben, so werden sie allerdings auf dem Marsch ertappt«.

Die Anmerkung (m) lautete: »Streng genommen sind zwar alle Eingeweidewürmer als Parasiten zu betrachten. Ich brauche jedoch hier das Wort parasitisch nur von jenen Würmern, welche mittels des von einem Thiere zur Speise verwendeten anderen Thieres in den Nahrungskanal des ersteren gelangt sind.«  - (par)

Urzeugung (2) Die meisten Menschen von der Antike bis zum 20. Jahrhundert  glaubten an die Urzeugung: Lebewesen konnten direkt aus unbelebten Stoffen entstehen. So ließen sich Würmer aus Holz, Käfer aus Mist und Mäuse aus Flußschlamm erzeugen. In Shakespeares Antonius und Kleopatra sagt Lepidus zu Antonius: «Eure ägyptische Schlange wird also durch die Kraft eurer Sonne aus eurem Schlamm ausgebrütet; so auch euer Krokodil.» Wenn Schlamm sowohl Mutter wie auch Vater ersetzen konnte, dann hatte es wenig Sinn, einen Stammbaum zu erstellen oder darüber nachzudenken, woher man seine besondere Form der Nase hatte. Alles war möglich.  - Robert Shapiro, Der Bauplan des Menschen. Frankfurt am Main 1995 (zuerst 1991)

Urzeugung (3) Dem, der, auf dem objektiven und empirischen Wege, dem plausibeln Faden des Materialismus nachgegangen wäre und nun voll Schrecken über die gänzliche Vernichtung durch den Tod, die ihm da entgegenstarrte, sich an uns wendete, würden wir vielleicht auf die kürzeste und seiner empirischen Auffassung entsprechende Weise Beruhigung verschaffen, wenn wir ihm den Unterschied zwischen der Materie und der temporär sie in Besitz nehmenden stets metaphysischen Kraft augenfällig nachwiesen, z. B. am Vogelei, dessen so homogene, gestaltlose Flüssigkeit, sobald nur die gehörige Temperatur hinzutritt, die so komplicirte und genau bestimmte Gestalt der Gattung und Art seines Vogels annimmt. Gewissermaaßen ist Dies doch eine Art generatio aequivoca [Urzeugung]: und höchst wahrscheinlich ist dadurch, daß sie einst in der Urzeit und zur glücklichen Stunde, vom Typus des Thieres, welchem das Ei angehörte, zu einem höhern übersprang, die aufsteigende Reihe der Thierformen entstanden. Jedenfalls tritt hier am augenscheinlichsten ein von der Materie Verschiedenes hervor, zumal da es, beim geringsten ungünstigen Urnstande, ausbleibt. Dadurch wird fühlbar, daß es, nach vollbrachtem, oder später behindertem Wirken, auch eben so unversehrt von ihr weichen kann; welches denn auf eine ganz andersartige Permanenz hindeutet, als das Beharren der Materie in der Zeit ist.  - (schop)

Urzeugung (4)  »Nicht von den Gestalt gewordenen Mißverständnissen, nicht von den traurigen Parodien, meine Damen, und nicht von den Früchten primitiver und vulgärer Unbeherrschtheit wollte ich sprechen, als ich meine Abhandlung über die Schneiderpuppen ankündigte. Ich hatte etwas anderes im Sinn.«

Hier nun begann mein Vater vor unseren Augen das Bild einer von ihm erträumten generatio aequivoca anzufertigen, das Bild einer Generation nurmehr halborganischer Wesen, einer Pseudovegetation und Pseudofauna, das Bild der Produkte einer phantastischen Fermentation der Materie.

Es waren Geschöpfe, die nur zum Schein den Lebe; wesen - Wirbeltieren, Krustentieren und Gliederfüßern - glichen, doch dieser Schein trog. In Wirklichkeit waren es amorphe Wesen ohne jede innere Struktur, Früchte der ... imitativen Absichten gedächtnisbegabter Materie, die ihre einmal angenommenen Formen aus Gewohnheit wiederholt. Die Skala der Morphologie, der die Materie unterliegt, ist sowieso begrenzt, und ein gewisser Formenvorrat wiederholt sich ständig auf den verschiedenen Seinsebenen.

Geschöpfe, die sensibel auf Reize reagierten, die sich bewegten und doch vom wirklichen Leben weit entfernt waren, konnte man gewinnen, indem man bestimmte komplizierte Kolloide in Kochsalzlösung hängte. Diese Kolloide formierten sich nach einigen Tagen, sie organisierten sich zu einer bestimmten Substanzverdichtung, die an niedere Formen der Fauna erinnerte.

Bei den so entstandenen Geschöpfen konnte man zwar sowohl Atmungsvorgang als auch Stoffwechsel feststellen, doch die chemische Analyse ergab keinerlei Spuren von Eiweiß- oder gar Kohlenstoffverbindungen.

Diese primitiven Formen waren allerdings gar nichts im Vergleich zu dem Formenreichtum und zu der Herrlichkeit der Pseudofauna und Pseudoflora, die mitunter in genau definiertem Milieu auftritt. Ein solches Milieu findet sich in alten Wohnungen, die von den Emanationen vieler Lebensgeschichten und Ereignisse durchtränkt sind — abgenutzte Atmosphären, angereichert mit den spezifischen Ingredienzien menschlicher Träume - es findet sich in Trümmerhaufen, die vom Humus der Erinnerungen, von Sehnsüchten und leerer Langeweile gesättigt sind. Auf solchem Boden keimte diese Pseudovegetation schnell und oberflächlich, üppig und ephemer schmarotzend, sie brachte kurzlebige Generationen hervor, die plötzlich und herrlich aufblühten, um alsbald zu vergehen und zu verwelken.

Die Tapeten in solchen Wohnungen müssen schon sehr verschlissen und von der unablässigen Wanderung durch alle Rhythmuskadenzen gelangweilt sein, so verwundert es nicht, daß sie auf die Abwege weit entfernter, riskanter Schwärmereien geraten. Das Innerste, die Substanz der Möbel muß bereits bröckelig sein, degeneriert und sündhaften Verlockungen erlegen: Dann erblüht auf dem kranken, maroden und verwilderten Boden ein phantastischer Belag aus farbenprächtigem, wucherndem Schimmel, wie ein schöner Hautausschlag.   - Bruno Schulz, Traktat über die Schneiderpuppen - Schluß. Nach (bs2)

Urzeugung (5) Ein Versuch der Urzeugung. Im Gebiet der ehemaligen Mars-Administration arbeitete eine Forschergruppe an der Entwicklung eines Waffensystems. Nach Vernichtung des zuständigen Flottenstabes war diese Arbeitsgruppe plötzlich arbeitslos. Ihre Existenz war aus den Unterlagen der übrigbleibenden Flottenstäbe gar nicht ersichtlich. Im Verhalten dieser Arbeitsgruppe wurde jetzt sichtbar, daß unterhalb der Auftragsproduktion, die diese Gruppe leistete, die unbezwingliche Sehnsucht nach Wiederherstellung der Heimat (so wie sie sie verstand) in Form eines selbständigen Arbeitsprozesses immer nebenherlief. Diese Gruppe entwickelte eine Suppe organischer Substanz, die im Verlauf weniger Jahre die Phasen des Lebens in den Urmeeren, die amphibische Phase, die der Saurier und die der Säuger durchlief. Die Entwicklungszeit zwischen frühen Sauriern und frühen Menschen versuchten die Gelehrten wegen der besonderen Eile, die ihrer Sehnsucht anhaftete, durch Kreuzung abzukürzen. Die Gruppe wurde von der Flottenführung entdeckt und sogleich vernichtet, als sie dabei war, eine Variante von menschlichen Lebewesen im freien Gelände zu erproben. Außerdem existiert bereits, eingezäunt, eine Generation von weltraumflugfähigen Kleinsauriern.  - (klu)

Urzeugung (6)  Wer sich mit Photographie beschäftigt hat, weiß aus Erfahrung, daß in der Flasche des Oxalat-Entwicklers Schimmel (eher Algen) wächst, obwohl der Kork nicht heraus gewesen ist. In der Flasche ist Eisenvitriol, das ein tödliches Qift für Organismen ist; desgleichen oxal-saures Kali, das auch alles Leben zerstört. Woher dann das Wachstum? Von Sporen, sagt man noch immer, obwohl deren Keimkraft getötet ist. Ingenhouz schloß Wasser in einer Flasche ein; im Licht erhielt er grüne, im Dunkel weiße Algen (oder Pilze). Er hatte wie Pasteur Flasche und Luft geglüht, das Wasser gekocht. Spallanzani wiederholte den Versuch und erhielt das entgegengesetzte Ergebnis. Nägeli hat eine theoretische Kompromißlösung versucht, diese: daß die allerersten Organismen so klein sind, daß sie vom Mikroskop nicht erreicht werden; und die Protisten, die wir kennen, in weitem Abstand von den unsichtbaren stammen.

Während man darüber streitet, wächst noch immer Schimmel im Brot, das im Backofen halb verkohlt ist und dann unter einer Glocke mit geglühter Luft bewahrt wird. Und im Käse, der so gekocht worden ist, daß das Eiweiß geronnen ist, wächst Schimmel ebenso frisch. Wie die Natur zuwege geht, scheint sich in den Laboratorien nicht offenbaren zu wollen.  - (blau)

Urzeugung (7)
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