Urteilsbegründung     Sie hatte sie mir das Programm zugesteckt. Ich trat ans Mikrophon und las:
 

Vergewaltigung
Aktion in einer Szene
Gerichtssitzung
Verlesung des Urteilsspruchs
durch den Richter (gespielt von Poppes),

welcher alle Vergewaltigungen genauestens beschreiben wird, während die jeweiligen Tatorte auf die Leinwand geworfen werden, vor denen die jeweiligen Opfer leibhaftig erscheinen, um pantomimisch, ein jedes mit seinem Täter, vorzuführen, was mit ihnen angestellt worden war, auf den verschiedensten Schauplätzen Münchens.

Poppes begann, als das erste Dia erschien: Wir sprechen folgendes Urteil: Die Opfer können zur Vergewaltigung verurteilt werden, weil diese Urteile von den Gewalttätern schon vollstreckt worden sind.

Die Begründung: Das Mädchen sei im Nymphenburger Schloßrondell auf einer Bank gesessen, lesend, weder bemerkend, daß ihr Rock hochgerutscht war, noch seine Anwesenheit ihr gegenüber, die sie aber einmal, wenn auch nur kurz, wahrgenommen haben mußte, da sie, als sie sich gesetzt, zu ihm herübergeblickt habe. Der in der Zwischenzeit durch unwillkürliche Veränderungen ihrer Lesehaltung immer höher über ihre wohlgeformten Beine hochrutschende Rock habe bald auch ihren Slip seinen Blicken freigegeben, da sie zudem die zunächst geschlossene Stellung der Beine aufgegeben habe: die entspännteste Sitzhaltung einnehmend. Die plötzliche zweite Wahrnehmung ihres Gegenübers, jedoch nicht die geringste Veränderung ihrer nur allzu bequemen Haltung, sowie ihrer Gemütsverfassung, einer gelassenen, kindlichen, völlig entspannten, habe ihn schließen lassen darauf, daß er nicht den geringsten Verdacht erregte. Er könne nicht sagen, weswegen ihn ihr Verhalten so gequält habe.

Wir sehen das so: Mit wachsender Verärgerung, die sich zur schlimmen Verstimmung und schließlich zur blanken Wut steigerte, mußte der Täter erkennen, daß er verstoßen wurde, daß diese Verstoßung aus ihrer kindlichen, arglosen Welt, allein ihr Werk war. Sie, diese Unschuld, verstieß ihn, insbesondere dann und dann aber endgültig, als plötzlich ihre Knie zu zittern anfingen, sie die Beine schloß, den Rock glatt strich, errötete und entfloh.

Er sei stadteinwärts gelaufen und in die Martiusstraße eingebogen, aus welcher sie gekommen sei, weshalb er ihr in die Beine gelaufen sei, was sie kurz, aber gar nicht überrascht, übergangen habe, ihn deutlich übersehend, zunächst. Aber plötzlich sei sie in seiner Richtung enteilt. Die langen Beine unter ihrem kurzen Rock seien aber beinahe fröhlich vor ihm gestöckelt.

Wir sehen das so: Der Täter wollte sie einholen, wollte ihr und sich etwas erklären, wovon er undeutliche Kenntnis hatte und war bald dazu übergegangen: ihr Beine zu machen, denen er nachlaufen konnte,

Er habe sie in der Widenmayerstraße angesprochen. Ihren Bauch habe er Ecke Gewürzmühlstraße auf sich zukommen sehen. Vorgehabt habe er nur, sie um Feuer zu bitten, aber als er bemerkt habe, wie sie, ohne zu zögern, seinen Wunsch habe erfüllen wollen, habe er nicht mehr als das genommen werden wollen, als was er bei ihr gegolten habe, nämlich als harmlos. -

Wir sehen das so: Ihr war sein Verlangen nicht ungewöhnlich erschienen, wahrscheinlich weil er nicht ungewöhnlich aussah. Sie übertrieb auch bestimmt in dieser Hinsicht und plauderte fröhlich und zündete ihm die Zigarette auch noch selber an. Genau das war aber zu viel des Harmlosen. Das mußte sie erkannt haben. Sie wich zurück und lief weg. Das war ungewöhnlich. Das war es.

Das Mädchen sei aufgesprungen. Sie sei davongelaufen. Er habe sie beim Schloß eingeholt. Da habe sie sich an die Mauer gelehnt. Sie sei zusammengesunken und, so gekauert unter ihm, habe zu wimmern begonnen. Dann aber habe er wie auf ihre Anweisungen gehandelt. -

Wir sehen das so: Sie gab sich nicht etwa auf. Nicht eine Bereitwilligkeit war das, schon gar keine Aufforderung zur Gewalt, aber ein deutliches Wissen in ihrem Gesicht, vielleicht sogar ein Wunsch nach Bestätigung dieses Wissens: Das ist einer, der nicht mehr aufhören, der nicht mehr zur Besinnung kommen kann. Er handelte so, wie sie das vorausgewußt hatte.

Er habe sie eingeholt, über die Königinstraße gestoßen, sie vom Brückengeländer weggerissen und in die Uferböschung unter der Brücke gezerrt. Dort habe er sie ins Gras geworfen und sie so weit an den Füßen weiter abwärts gezogen, bis ihre Beine freilagen. Sie habe sich nicht mehr bewegt. —

Wir sehen das so: Sie dachte: Er solle es über sie bringen. Er solle ihre schlimmste Erwartung bestätigen. Er solle derart dokumentieren, was für einer er sei.

Er habe sie in die Widenmayerstraße und anschließend in die Isarauen gedrängt, wo er sie auf einer Bank gewürgt habe. Sie habe sich nicht mehr ernsthaft gewehrt. -

Wir sehen das so: Sie war schon gefaßt auf das Schlimmste. Sie kontrollierte schon seine Untat. Jedenfalls sollte er unglücklich werden; was er auch wurde, wie um dem Unglück zu entsprechen, das sie ihm zeigte, indem sie es durch ihn erlitt. -Wir sehen das so: In einem Hinterhaus in der Rosengasse, an der Mauer des Thalkirchner Friedhofs, in einer kleinen Wohnung in Neuhausen, im Olympiapark, hinter einem Lagerhaus in Moosach, in Großhadern auf einer Wiese, in Milpertshofen, in den Anlagen hinter der Glyptothek: wurden die Täter von ihren Opfern als etwas erkannt, was diese noch nicht waren. In den Augen der Opfer aber waren sie das schon; nämlich Verbrecher. Wie sie gesehen wurden, so handelten diese, ehe sie selbst es so sahen. Wir sehen das so: Ihnen, den Gewalttätern, gaben die Opfer die Macht: sie zu beherrschen.

Wir sehen das so: Es wurden in allen Bezirken der Stadt Menschen ermächtigt dazu: Gewalt auszuüben. Wir sehen das so: Es wurde in dieser Stadt Menschen die Macht zuerkannt, störungsfreie Vergewaltigung ihrer Einwohner zentral zu steuern in einem System, dessen Legitimation auf einem sozialen Klima beruht, das die Anerkennung verbrecherischer Entscheidungen als Schicksal institutionalisiert.

Die Vollzugsorgane des Schicksals können also von uns nicht verurteilt werden, weil sie nicht die Schuldigen sind, sondern die Opfer ihrer Opfer, die - wie wir eingangs erklärt hatten - zu Vergewaltigungen verurteilt werden können, weil diese Urteile von den Opfern der Opfer schon vollstreckt worden sind. — Wir sehen das so.    - Paul Wühr, Das falsche Buch. Frankfurt am Main 1985

Urteil Begründung

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