rszene  Am Anfang steht die Scham, am Ende die Schamlosigkeit, wie immer diese als Provokation ausgespielt und ›eingesetzt‹ werden mag. Sucht man nach unseren zeitgenössischen Zynikern, so gibt es nur einen vom ungeschönten Kaliber: den gebürtigen Rumänen und gewählten Franzosen E. M. Cioran. Er treibt die Entschämung bis zur Bloßlegung der ›Urszene‹, das ist er den verschärften Spielregeln des Profischockers schuldig, den sich das literarisch genußgierige Publikum für sein Geld ›hält‹. In einem Brief hat er 1982 geschildert, wie für ihn als 17jahrigen Otto Weininger zum Idol wurde, in der Gier nach jeder Art von Exzeß und Häresie. Er schildert die Stilmerkmale solcher Manie der schwindelerregenden Übertreibungen bis zur Selbstaufhebung jeder These, und vor allem die Gleichsetzung der Frau mit dem Nichts und sogar mit noch weniger. Wie er gerade zu diesem Femininnihilismus gekommen war, schildert er.

Der Gymnasiast war völlig an die Philosophie verloren und an eine Mitschülerin in Hermannstadt, die er gar nicht persönlich kannte und die kennenzulernen Schüchternheit ihn hinderte. Ein Jahr war das so geblieben, als er eines Tages im großen Stadtpark gegen einen Baum gelehnt ein Buch las. Plötzlich hörte ich Gelächter. Was sah ich, als ich mich daraufhin umdrehte? Sie in Begleitung eines Klassenkameraden von mir, den wir alle unglaublich verachteten und die Laus nannten! Es sind über fünfzig Jahre her, aber ich kann mich noch ganz genau an das erinnern, was ich damals fühlte. Er beschreibt es nicht näher. Wir brauchen die Beschreibung auch nicht. Jedenfalls entschloß er sich auf der Stelle, mit den ›Gefühlen‹ Schluß zu machen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, weil ja keiner genau weiß, wie man das macht: Gefühle lassen sich nicht abstellen. Der erste Schritt ist ein Rollenwechsel, bei dem das behavior der Fühllosigkeit in der Selbsterfahrung und in der Selbstdarstellung erprobt und durchgehalten werden muß. Cioran gibt das in einem einzigen Satz: Und so wurde ich zu einem eifrigen Stammkunden des Bordells.

Es ist eine Thales-Szene, stilisiert wie sie, indem der theoretische Habitus modernisiert wird zum bloßen Lesen eines Buches, gelehnt an einen Baum — eine wie einstudiert wirkende Attitüde. Thales hatte es schwerer, Zyniker zu werden, weil es noch an Mustern fehlte — und vor allem, weil er die Thrakerin mit der Verachtung nicht treffen konnte, denn sie war ohnehin eine Fremde. Aber das Mädchen von Hermannstadt sollte ihr Gelächter büßen, indem der Verlachte seine Verachtung auf ihr ganzes Geschlecht wendete: ein Nichts, gerade zum bezahlten Gebrauch. Sie dürfte es nie erfahren haben, wo und wie es sie treffen sollte; aber das gehört zum Wesen des Zynismus, daß er aus der ›Urszene‹ heraus sich auf Ersatzobjekte der großen Erwiderung, der Inversionskunstfertigkeit richtet. Aus dem leichtfertigen Lachen des Spotts wird die Kälte der Verachtung für die Menschheit, oder wenigstens deren Hälfte. Man erinnere sich, wie Schopenhauer seine juristische Niederlage gegen die Witwe Marquet in einen Lebensstil unerbittlicher Geringschätzung umsetzte. Der Zyniker ist einer, der nicht verlieren konnte, und dem es nie gelingt, das Verlieren in ein Kryptogramm des Obsiegens umzuwandeln, wie Sokrates es noch im Kerker gelingt — wenn da nur nicht die Hintertür der Unsterblichkeit und der Rache an allen durch die Totenrichter wäre, deren Namen sich dieser Sokrates doch wohl nicht umsonst so genau eingeprägt hatte. Er wußte, wozu er sie brauchte.

Dafür schrieb er eben keine Bücher. E. M. Cioran hat die ›Urszene‹ in abendfüllende Bitterkeiten umgesetzt. Weiß er gar nicht, daß sie gerade von denen genußvoll geschlürft werden, die sich daran vergewissern, selbst solcher Regungen entweder nicht zu bedürfen (über mich hat noch keine Frau gelacht, sagte der, der mich auf Ciorans Weininger-Epistel hinwies) oder nicht fähig zu sein. Solche Texte, die davon berichten, wie einer sich erprobt, ob er mit dem Lebenstrauma fertiggeworden ist, dienen anderen dann dazu, nur noch zu erproben, wie man mit den Lebensattitüden anderer fertig wird, indem man sich gegen sie erklärt, sich jenseits oder diesseits ihrer definiert. - (blum2)

Augenblick Anfang
Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
Verwandte Begriffe
Prägung
Synonyme