nverschämtheit  Chuzpe ist ein Begriff, der sich leichter veranschaulichen als definieren läßt. Wie Richter Potter Stewart einmal über die Bedeutung der Pornographie witzelte: 'Ich kann nicht sagen, was es ist, aber ich erkenne sie, wenn ich sie sehe.'  Wie unzulänglich solche Ein-Wort-Definitionen auch sein mögen, einen chúzpenik — einen Menschen, der die Eigenschaft der Chuzpe personifiziert — erkennen wir sofort, wenn wir ihn in Aktion erleben. Tatsächlich hat das jiddische Wort chuzpe eine positive und eine negative Konnotation. Für denjenigen, der sie an den Tag legt, bedeutet Chuzpe Kühnheit und Entschiedenheit, die Bereitschaft zu fordern, was sein gutes Recht ist, auf die Tradition zu pfeifen, Autorität herauszufordern, sich zu empören.

Für das Opfer von Chuzpe ist sie gleichbedeutend mit Unverschämtheit, Frechheit, Hochmut, Arroganz, scheinheiligem Wünschen in Reinkultur. Es liegt wahrhaftig am Standpunkt des Betrachters.

Das klassische Beispiel — der Sohn, der seine Eltern ermordet und anschließend als Waisenkind um Gnade bittet — hat in meinen eigenen Erfahrungen seine Fortsetzung erfahren. Ein wegen des Verkaufs gefälschter Antiquitäten verurteilter Mandant, der versuchte — Sie haben es erraten —, mich mit Antiquitäten zu bezahlen. Die Frau, deren Strafprozeß ich gewann und die mich wegen Fahrlässigkeit verklagte, weil sie die Regierung nun nicht mehr weiter hintergehen könne. Der Antisemit, der mir einen Brief schrieb, in dem er die Juden als knickerig geißelte — und selber zehn Cents zuwenig auf den Briefumschlag klebte. Der Neonazi, der wegen Störung des öffentlichen Friedens angeklagt war, weil er gefordert hatte, die Juden 'zurück nach Israel' zu schicken, und mich bat, seine Verteidigung zu übernehmen, weil 'ihr Juden das amerikanische Rechtssystem kontrolliert'.

Gelegentlich hat man mir selber den Vorwurf der Chuzpe gemacht. Ich begrüße eine solche Charakterisierung, weil ich es vorziehe, sie mit all ihren positiven Konnotationen zu akzeptieren. - Alan M. Dershowitz, nach (uns)

Unverschämtheit (2) Vor allem eins, mein Kind — Die Unmoral der Lüge besteht nicht in der Verletzung der sakrosankten Wahrheit. Auf diese sich zu berufen hat am letzten eine Gesellschaft das Recht, die ihre Zwangsmitglieder dazu verhält, mit der Sprache herauszurücken, um sie dann desto zuverlässiger ereilen zu können. Es kommt der universalen Unwahrheit nicht zu, auf der partikularen Wahrheit zu bestehen, die sie doch sogleich in ihr Gegenteil verkehrt.

Trotzdem haftet der Lüge etwas Widerwärtiges an, dessen Bewußtsein einem zwar von der alten Peitsche eingeprügelt ward, aber zugleich etwas über die Kerkermeister besagt. Der Fehler liegt bei der allzu großen Aufrichtigkeit. Wer lügt, schämt sich, denn an jeder Lüge muß er das Unwürdige der Welteinrichtung erfahren, die ihn zum Lügen zwingt, wenn er leben will, und ihm dabei auch noch »Üb immer Treu‘ und Redlichkeit« vorsingt. Solche Scham entzieht den Lügen der subtiler Organisierten die Kraft. Sie machen es schlecht, und damit wird die Lüge recht eigentlich erst zur Unmoral am anderen. Sie schätzt ihn als dumm ein und dient der Nichtachtung zum Ausdruck. Unter den abgefeimten Praktikern von heute hat die Lüge längst ihre ehrliche Funktion verloren, über Reales zu täuschen. Keiner glaubt keinem, alle wissen Bescheid. Gelogen wird nur, um dem andern zu verstehen zu geben, daß einem nichts an ihm liegt, daß man seiner nicht bedarf, daß einem gleichgültig ist, was er über einen denkt.

Die Lüge, einmal ein liberales Mittel der Kommunikation, ist heute zu einer der Techniken der Unverschämtheit geworden, mit deren Hilfe jeder Einzelne die Kälte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen kann. - Aus:  Th. W. Adorno, Minima Moralia (zuerst 1951)

Unverschämtheit (3) Die Unverschämtheit stellt, will man ihr Wesen bestimmen, eine Mißachtung des eigenen guten Ruf es um schmählichen Vorteils willen dar.

Ein unverschämter Mensch sucht, falls er sich etwas borgen möchte, zunächst den auf, den er schon einmal geschädigt hat, dann erst einen anderen. Brachte er den Göttern Opfer dar, so nimmt er bei einem anderen an der Mahlzeit teil, das eigene Opferfleisch jedoch pökelt er ein und bewahrt es auf. Außerdem ruft er noch seinen Diener herbei, reicht ihm vom Tisch des Gastgebers Brot und Fleisch hin und ruft vor aller Ohren: »Laß dir‘s gut schmecken, Tibeios!«

Beim Einkaufen von Leckerbissen erinnert er den Fleischer, falls er ihm einmal eine Gefälligkeit erwiesen hat, an dieselbe, tritt dicht an die Waage heran und wirft am liebsten noch ein Stück Fleisch, wenigstens aber einen Suppenknochen darauf; wenn er das Stück bekommt, ist er zufrieden, wenn nicht, schnappt er sich ein paar Kaldaunen vom Tisch und zieht lachend ab.

Für seine Gastfreunde ersteht er das Anrecht auf einen Platz im Theater; doch er selber schaut zu, ohne sein Teil zu entrichten, und bringt einen Tag später noch seine Söhne samt ihrem Erzieher mit. Von allem, was jemand preiswert eingekauft hat, fordert er auch für sich einen Anteil. Er sucht ein fremdes Haus auf und borgt sich Gerste, bisweilen auch Stroh, und nötigt diejenigen, die ihm das Erbetene ausgeliehen haben, es sich persönlich wiederzuholen.

Er scheut sich auch gar nicht, an die in der Badeanstalt stehenden Kupferkessel heranzutreten, die Gießkanne hineinzutauchen und zu füllen, sich trotz der empörten Rufe des Bademeisters selbst zu begießen und abschließend zu sagen: »Ich habe gebadet!« Beim Fortgehen bemerkt er dann: »Du schimpfst mich noch aus? Du hast dir dein Trinkgeld verscherzt!« - (theo)

Unverschämtheit (4) Zum Symbol der Unverschämtheit und Dummdreistigkeit sollte man die Fliege nehmen. Denn während alle Thiere den Menschen über Alles scheuen und schon von ferne vor ihm fliehen, setzt sie sich ihm auf die Nase. - (schop)

Scham Gefühle, unfreundliche
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Verschämtheit

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