nterseite  Die Briefchen, die sie geschrieben hat, die Schulden, die sie bei allen unseren Lieferanten hinterlassen hat, all das hat noch die unerwartetste und fürchterlichste Unterseite.

Sie hatte Männer, denen sie zahlte. Der Sohn der Krämerin hat sie ausgebeutet, sie hat ihm ein Zimmer möbliert; einem anderen brachte sie unseren Wein, unsere Hühner. Ein ganzes Leben voll wüster Orgien, von Nächten außer dem Hause! Ein sinnliches Rasen, das ihre Liebhaber sagen ließ: »Wir gehen dabei drauf, entweder sie oder ich!« Eine Leidenschaftlichkeit, Leidenschaften, bei denen gleichzeitig der Kopf, das Herz und die Sinne mitsprachen und in die sich alle Krankheiten des unglücklichen Mädchens mischten: das Lungenleiden, das gierig auf Sinnenlust macht, die Hysterie und der Wahnsinn.

Mit dem Sohn der Krämerin hat sie zwei Kinder gehabt. Das eine hat nur sechs Monate gelebt. Als sie uns vor ein paar Jahren sagte, sie ginge ins Krankenhaus, war es, um niederzukommen! Und für alle diese Männer eine so krankhafte, so außerordentliche Glut, die sie so heftig mitriß, daß sie — die in Gelddingen so ehrlich und so unbestechlich war — uns bestahl, ja, uns Zwanzig-Francs-Stücke aus Rollen zu hundert Francs entwendete, all das, um ihren Geliebten Feste zu geben und sie auszuhalten.

Dann nach solchen unwillentlichen, ihrer geraden Natur gewaltsam entrissenen Streichen verfiel sie in solche Betrübnis, in solche Gewissensbisse, daß sie in dieser Hölle, in der sie unbefriedigt von Verfehlung zu Verfehlung glitt, zu trinken begann, um sich selber zu entfliehen, sich zu entkommen, die Zukunft zu verdrängen, um sich selbst aus der Gegenwart zu retten, sich zu ertränken und für ein paar Stunden in Schlaf, in Bewußtlosigkeit zu versenken, die sie einen ganzen Tag lang sich auf ihrem Bett wälzen ließ, wenn sie beim Bettenmachen darauf hingesunken war!

Und all die Zerrissenheit, all die Schauder tief in ihr! Die Unglückselige! Wieviel Anlagen, Motive und Gründe fand sie in sich, um sich im Innern zu verzehren und zu geißeln. Zunächst das Zurückstoßen in manchem Augenblick von religiösen Vorstellungen mit den Schrecken der Hölle aus Feuer und Schwefel. Dann die Eifersucht, jene Eifersucht, die sie für jeden und für alle verzehrte; die Verachtung, die die Männer sie nach einiger Zeit spüren ließen, weil sie körperlich so häßlich war; die Eifersucht auf deren neue Geliebten, das Schauspiel, wie die Mädchen dem Sohn der Krämerin nachliefen . . . Das alles trieb sie so sehr zur Flasche, daß sie eines Tages, als sie stockbetrunken in der Wohnung hinfiel, eine Fehlgeburt erlitt! Es ist schrecklich, wie sich die Schleier zerreißen; es ist wie die Autopsie von etwas Schauderhaftem in einer plötzlich aufgeschnittenen Toten.

Aus dem, was man mir berichtet, kann ich alles ahnen, was gewesen sein muß, was sie seit zehn Jahren hat leiden müssen; die Liebschaften, in die sie sich wie eine Wahnsinnige stürzte; die Ängste vor uns, die Furcht vor plötzlicher Entdeckung, vor einem anonymen Brief; das ewige Zittern um Geld, der Schrecken vor einer möglichen Denunzierung durch die Lieferanten; die Räusche, die an ihrem Körper zehrten, die sie so verbrauchten wie eine Frau von über neunzig Jahren; die Schande, in die sie absank - sie, die so von Stolz durchdrungen war —, die Schande, einen Geliebten zu nehmen, wo sie eine diebische, elende Magd war, die sich selbst verachtete, dazwischen die Geldsorgen, die Verachtung durch die Männer, die Streitereien aus Eifersucht, die wütendste Verzweiflung, die Selbstmordgedanken, die sie bestürmten und die mich sie einmal von einem Fenster zurückreißen ließ, durch das sie sich schon gänzlich hinausgelehnt hatte; schließlich auch alle die Tränen, die wir grundlos glaubten. Verflochten all dieses mit einer sehr tiefen gemüthaften Zuneigung zu uns und mit der unbedingten Ergebenheit bis in den Tod, die nur nach Betätigung suchte.

Dazu eine Willens- und Charakterstärke, eine Kraft, etwas geheim zu halten, mit der nichts verglichen werden kann; eine Verschwiegenheit über alle ihre tiefen Heimlichkeiten, ohne daß ihr irgend etwas uns gegenüber entschlüpfte und sich unserem Auge, Ohr oder Beobachtungssinn verriet, auch nicht in den Nervenkrisen, die ich an ihr bemerkte, wenn sie von der Krämerin zurückkam; ein beharrlich bis in den Tod gewahrtes Geheimnis, das sie mit sich bestattet glauben mußte, so sehr hatte sie es in sich vergraben!

Und woran starb die Unselige? Daran, daß sie vor acht Monaten im Winter nicht an sich halten konnte, auf Montmartre diesem Sohn der Krämerin auflauerte, der sie bestohlen und davongejagt hatte, und eine ganze Nacht lang vor einem Parterrefenster lungerte, um herauszubekommen, mit wem er sie betrog; eine Nacht, von der sie völlig durchnäßt zurückkam und eine tödliche Lungenentzündung mit heimbrachte. - (gon)

 

Geheimnis Sichtbarkeit

 

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