nterscheidung, akademische Der zufällig an unserer Seite sitzende Mann vom Fach - er ist Dr. phil. II. Klasse, hat in den Naturwissenschaften promoviert und fahndet seit geraumer Zeit auf eine Gymnasialprofessur - wird uns etwa folgenden Bescheid erteilen:
»Indem ich die Damen vom physikalischen Gesichtspunkt aus betrachte,
kann ich allerdings nicht umhin, zu bemerken, daß sie bezüglich ihrer taktischen
Verhältnisse verschiedenen Gesetzen unterliegen. Die eine, die Trapezkünstlerin,
erfreut sich eines stabilen, die Seiltänzerin dagegen schwebt in labilem
Gleichgewicht. Mit anderen Worten: erstere hat ihren Stützpunkt (Sie bemerken
den Haken, an dem die Stricke des Trapezes befestigt sind) über sich, letztere
hingegen hat ihn unter sich in dem kaum zollbreiten Band, das sich außerdem
ihr selber gegenüber wieder in labilem Gleichgewicht befindet. Ich weiß nicht,
ob Ihnen das so ganz klar ist, meine Herren. - Daraus ergibt sich nun bei jener
die Innehaltung des Gleichgewichtes als etwas Selbstverständliches, während
diese, die Seiltänzerin, sich dasselbe jeden Augenblick von neuem erkämpfen
muß. Sie werden nun selber begreifen, daß bei der Trapezkünstlerin der Aufenthalt
hoch in der Luft Nebensache, das heißt Vorbedingung, demnach nicht ein Teil
ihrer Kunstleistung ist, sondern daß die zierlichen Gaukeleien und Kraftübungen
das Wesen ihrer Kunst ausmachen; wogegen die Dame auf dem Stahlband in ihrem
gemessenen Tanz und dem anmutigen Spiel der Arme durchaus nur ornamentales Beiwerk
zu ihrem überaus geschickten Balancieren liefert. Während die Trapezkünstler
in das Gleichgewicht nur dann verliert, wenn die Stricke reißen, stürzt die
Seiltänzerin mit unerbittlicher Notwendigkeit in der ersten Sekunde, in der
sie sich selbst vergißt.« - Frank Wedekind, Trapezkünstlerin
und Seiltänzerin. In: Salto. 99 Luftsprünge,
Purzelbäume und andere Kunststücke. Berlin 2001 (Wagenbach, Salto 100,
Hg. Susanne Schüssler, Maren Arzt)
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